In den Sommerferien sind junge Frauen mit Migrationsgeschichte von Zwangsverheiratung bedroht. Was steckt dahinter? Wie können Lehrkräfte oder Freunde im Vorfeld helfen?
Sie verabschieden sich in die Sommerferien – und kehren danach nicht mehr ins Klassenzimmer zurück, weil sie im In- oder Ausland unter Zwang verheiratet wurden. Wie erkennen Lehrkräfte, Mitschüler, Nachbarn, Freunde, das so etwas droht – und wie können sie helfen?
Was ist Zwangsverheiratung?
Zwangsheirat hat verschiedene Formen. In einem Bericht der Familienforschungsstelle Baden-Württemberg werden vier mögliche Szenarien aufgelistet:
- Junge Frauen werden innerhalb der in Deutschland lebenden Community gegen ihren Willen verheiratet.
- Bei sogenannten „Heiratsverschleppungen“ werden in Deutschland lebende Frauen – selten auch Männer – oft unter dem Vorwand eines Urlaubs ins Ausland gebracht und dort verheiratet.
- Mädchen oder Jungen mit Migrationsgeschichte, die in Deutschland leben, werden mit Partnern im Herkunftsstaat verheiratet, die dann im Zuge des Ehegattennachzugs nach Deutschland einreisen („Importbraut“, „Importbräutigam“).
- Bei der „Verheiratung für ein Einwanderungsticket“ wird einer im Ausland lebenden Person die Einwanderung nach Deutschland ermöglicht, indem sie eine in Deutschland lebende Person mit gesichertem Aufenthaltsstatus heiratet.
Was steckt dahinter?
„Das Phänomen Zwangsverheiratung lässt sich keinen spezifischen Ländern oder Kulturen zuordnen, sondern findet sich seit jeher weltweit. Sie betrifft auch Gesellschaftsgruppen in heutzutage eher individualistisch geprägten westlichen Staaten“, schreibt die Familienforschungsstelle. Zwangsverheiratungen gelten als Gewalt im Namen der sogenannten Ehre „in patriarchalischen Gesellschaften und Familiensystemen, in denen traditionell Frauen den Männern untergeordnet und kollektivistische Wertvorstellungen vorherrschend sind“. Durch Flucht und Migration kommt das Problem zunehmend in Deutschland und Baden-Württemberg an. Aber auch bereits länger hier lebende Migrantinnen sind betroffen.
Wie viele sind betroffen?
Wie viele Mädchen und Frauen in Baden-Württemberg gegen ihren Willen im In- oder Ausland, oft in den Ferien, heiraten müssen, lässt sich nicht genau bestimmen. Seit 2011 ist Zwangsverheiratung ein Straftatbestand, doch die Polizeistatistik bildet nur die Spitze des Eisbergs ab. Deutschlandweit weist sie 68 Fälle für 2024 aus, für Baden-Württemberg ist es jährlich eine einstellige Anzahl. Allerdings liegt eine Zwangsheirat im Sinne von § 237 StGB nur vor, „wenn eine rechtswirksame Ehe nach ausländischem oder nach inländischem Recht geschlossen wurde“. Informelle Eheschließungen, wie beispielsweise religiös oder sozial geschlossene Ehen, zählen nicht dazu.
Bei einer Demonstration gegen Zwangsehen wird diese zu Grabe getragen. Foto: picture alliance/dpa
An die Stuttgarter Kontaktstelle Yasemin, die Frauen und Männer berät, die von jeglicher Gewalt im Namen der „Ehre“ betroffen waren, wenden sich jedes Jahr mehr Hilfesuchende. 250 waren es zuletzt. Das stimmt mit Erfahrungen von Beratungsstellen in anderen Großstädten überein. Ein Großteil der Hilfesuchenden bei Yasemin sind Geflüchtete aus Ländern wie Syrien, Afghanistan, dem Irak, aber auch Menschen mit Migrationshintergrund in der Türkei.
Was tut das Land?
2015 wurde die Bekämpfung von Zwangsverheiratung im Partizipations- und Integrationsgesetz des Landes Baden-Württemberg verankert. Das Sozialministerium fördert vor allem Aufklärungs- und Hilfsprojekte, unter anderem die Beratungsstelle Yasemin und Notaufnahmeplätze für Betroffene im Stuttgarter Projekt Nadia der Evangelischen Gesellschaft. Ebenfalls gefördert werden zum Beispiel Theaterprojekte wie „Mensch: Theater! lch gebe Dir mein Ehrenwort!“, die junge Menschen über das Thema aufklären wollen.
Was kann das Umfeld tun?
Aischa Kartal ist Bereichsleiterin der Hilfen für junge Migrantinnen bei der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (Eva). Sie findet es wichtig, dass in Schulen generell über die Themen Frauenrechte, Gewalt gegen Frauen und in diesem Zusammenhang auch Zwangsehe gesprochen wird. Wichtig wäre, einzelne Jugendliche nicht direkt und vor der Klasse darauf anzusprechen. Dies könnte aber durchaus in einem persönlichen Gespräch passieren, wenn Lehrkräfte das Gefühl haben, ein Mädchen oder Junge könnte bedroht sein. Warnhinweise, für die Lehrer, aber auch Mitschüler, Freunde, Nachbarn sensibel sein sollten, könnten sein: „Wenn sich Noten verschlechtern, ein Mädchen plötzlich nicht mehr am Sportunterricht teilnimmt, sich bedeckt“, zählt Aischa Kertal auf. Betroffene hätten rückgemeldet, dass es helfe, angesprochen zu werden, da sie selbst aus Scham das Gespräch nicht suchten. „Wichtig ist einen Schutzraum zu schaffen, in dem die junge Frau offen und vertrauensvoll sprechen kann“, so die Expertin. Die Vertrauensperson kann dann auf Hilfsangebote oder Ansprechpartner in Behörden hinweisen und Kontakt zu diesen herstellen.
Welche Angebote gibt es in Stuttgart?
1985 wurde das Langzeit-Wohnprojekt Rosa von engagierten Fachfrauen ins Leben gerufen, seit 2002 ist es in der Trägerschaft der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (Eva) und bietet bis zu 15 Plätze an. In drei Phasen helfen Fachkräfte den jungen Migrantinnen, die Gewalt und Zwang in ihren Familien erleben, in ein selbstbestimmtes Leben. Schritt für Schritt lernen sie, wie sie mit einer fiktiven Biografie und allein leben können. Von den 202 Bewohnerinnen, die bislang bei Rosa Hilfe fanden, blieben viele ihr Leben lang ohne Kontakt zu ihren Familien.
Seit fünf Jahren besteht außerdem die anonyme Kurzzeit-Zuflucht Nadia der Eva mit vier Plätzen für Mädchen ab 14 Jahren. Zwei weitere Plätze für Frauen ab 18 Jahren werden vom Sozialministerium Baden-Württemberg finanziert. Bei Nadia kommen die Hilfesuchenden zur Ruhe, werden mit Essen, Trinken, einem Schlafplatz versorgt und beraten, wie es weiter gehen soll.
Die Beratungsstelle Yasemin ergänzt das Angebot. Sie informiert vertraulich und anonym über die Themen Gewalt im Namen der „Ehre“, Zangsverheiratung und weibliche Genitalbeschneidung. Sowohl Betroffene wie auch vertraute Dritte können sich an die Beraterinnen wenden.
Weitere Infos
Homepage
Informationen und Hilfe für Betroffene und ihr Umfeld bietet die Homepage www.zwangsheirat.de