Vielen Orten in der Stadt ist Geschichte eingeschrieben. Sich an solche Orte zu begeben, dient der Anschauung. Geschichte wird dann zwar nicht lebendig, sie tritt einem jedoch plastisch vor Augen.

Das war jetzt bei zwei auffallend gut besuchten Stadtspaziergängen der Fall, die um die unmittelbare Nachkriegszeit in Stuttgart kreisten. Im Rahmen der theologischen Sommerakademie des evangelischen Bildungszentrums Hospitalhof führten sie, begleitet von Leiterin Monika Renninger, Stiftskirchenpfarrer Matthias Vosseler, City-Diakonin Doris Beck und Pfarrer Pfarrer Benedikt Jetter, am Mittwoch und Donnerstag zu wichtigen Schauplätzen kirchlichen Lebens nach Kriegsende: Schlosskirche, Oper, Markuskirche.

Die Stuttgarter Oper spielte dabei eine wichtige Rolle. Weil die großen Innenstadtkirchen – Stiftskirche, Leonhardskirche und Hospitalkirche, wie auch die katholische Eberhardskirche – nach den alliierten Bombenangriffen in Trümmern lagen, kamen die Protestanten am 10. Mai, zwei Tage nach Kriegsende, im weitgehend unzerstörten Littmannbau zu ihrem ersten Gottesdienst zusammen. Die ebenfalls intakt gebliebene Schlosskirche war dafür zu klein. Dort hatten sich während der Nazi-Herrschaft die NS-treuen „Deutschen Christen“ getroffen.

Der erste Gottesdienst nach dem Krieg

Ein Blick in die 1558 errichtete Kirche im Alten Schloss, die derzeit renoviert und an Pfingsten 2026 wieder eröffnet wird, samt Erläuterungen des Historikers Hermann Ehmer, bildet am Mittwoch den Auftakt der Tour. Von dort geht es zur Oper, wo Württembergs Landesbischof Theophil Wurm an jenem 10. Mai vor vollbesetztem Haus eine Predigt hielt, die das Stadtarchiv rückblickend als „Trostpredigt“ charakterisiert. In Anspielung auf den Führerkult um Adolf Hitler wandte Wurms sich gegen die „Vergötzung“ von Menschen. Seine anschließende Ansprache vom Balkon der Oper aus „im Namen der württembergischen Landeskirche und der bekennenden Kirche in Deutschland“ endete mit dem Ausspruch: „Zurück zu Christus und zurück zum Bruder!“

Beim Stadtspaziergang zitieren zwei Schauspieler der Staatstheater, Gabriele Hintermaier und Boris Burgstaller, vor den mehr als 100 Interessierten an der Operntreppe aus Wurms Predigt am Himmelfahrtstag. Ihr stimmgewaltiger Vortrag gibt einen Impuls für Diskussionen – auch zu Wurms ambivalenter Rolle, der, wie viele Kirchenmänner, damals die Machtübernahme der Nationalsozialisten begrüßt und es 1938 vermieden hatte, die Reichspogromnacht anzuprangern. Andererseits hatte er die Gleichschaltung der Landeskirche mit den „Deutschen Christen“ verhindert, sich öffentlich gegen die Ermordung von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen – das sogenannte Euthanasie-Programm – gewandt und Kontakt zu Kreisen des Widerstands unterhalten. Nach dem Krieg wurde Wurm erster Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirchen in Deutschland und zählte zu den Unterzeichnern des Stuttgarter Schuldbekenntnisses, das sich im Oktober zum 80. Mal jährt.

Teilnehmer des Stadtspaziergangs vor der Oper. Im historischen Littmannbau fand am 10. Mai 1945 der erste evangelische Gottesdienst nach Kriegsende statt. Foto: Jan Sellner Das Schuldbekenntnis fand zunächst keinen Widerhall

Der Schauplatz dieses am 19. Oktober 1945 öffentlich verlesenen Schuldbekenntnisses, die ebenfalls intakt gebliebene Markuskirche, stand im Mittelpunkt des zweiten Stadtspaziergangs am Donnerstag. Die zentralen Sätze dieses Schuldeingeständnisses, das kirchlicherseits die Grundlage für einen Neuanfang schaffen sollte, erklingen an diesem Abend, wie bei einem Quempas-Singen aus den vier Ecken des Kirchenraumes: „. . . wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben“, sagen Monika Renninger, Doris Beck, Matthias Vosseler und Benedikt Jetter im Wechsel.

Thema ist auch, was die damaligen Verfasser – Otto Dibelius, Martin Niemöller und Hans Christian Asmussen – nicht in Worte fassten: den Völkermord an den Juden und die Verfolgung und Vernichtung anderer Bevölkerungsgruppen wie den Sinti und Roma. Bemerkenswert auch der Hinweis von Roland Martin, langjähriger Pfarrer der Markuskirche, dass das gleichwohl bedeutsame Schuldbekenntnis innerhalb der Markusgemeinde zunächst keinerlei Widerhall fand.

In diesem Haus bei der Markuskirche wohnte der jüdische Arzt Robert Gutmann. Ein Stolperstein erinnert an ihn und ein Schicksal. Foto: Jan Sellner

Bei dem Stadtspaziergang, der den Fangelsbachfriedhof und ein dort 1963 eingeweihte Mahnmal einschließt, ist das Echo umso größer. Das erklärt sich auch aus der Schilderung des Schicksals des 1873 in Stuttgart geborenen jüdischem Arztes Robert Gutmann. Er lebte nur einen Steinwurf von der Kirche entfernt, am Markusplatz 1. Ein Stolperstein erinnert dort an ihn.

Ute Hechtfischer, Koordinatorin der Stuttgarter Stolperstein-Initiativen, ruft, stellvertretend für das Schicksal der jüdischen Bevölkerung, dessen Leben in Erinnerung. Sie listet die NS-Schikanen und -Demütigungen auf, die der alleinstehende Arzt, erdulden musste: vom Berufsverbot über den erzwungenen Wohnungs- und Ortswechsel bis zur „Verschubung“ ins Sammellager auf dem Killesberg und der Deportation des Schwerstkranken ins KZ Theresienstadt, wo Gutmann am 23. August 1942 sein Leben verlor. Die bürokratisch verfügte und erbarmungslos exekutierte Verfolgung zeigt in den Worten Hechtfischers deutlich: „Der Holocaust begann vor unserer Haustüre.“

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