Der Verein Arbeit an Europa lädt zum Europa-Tag in die Uckermark – mit dabei: Karl Schlögel und Irina Scherbakowa. Worum es ging.

03. August 2025 um 12:00 UhrOberuckersee

Ein Artikel von

Christina Tilmann

Friedenspreisträger Karl Schlögel beim Europa-Tag in der Uckermark

Angst vor zu viel Idylle: Friedenspreisträger Karl Schlögel beim Europa-Tag in der Uckermark

Christina Tilmann Zusammenfassung Neu

  • Europa-Tag in der Uckermark: Diskussion über Russland, Ukraine-Krieg und Europas Herausforderungen.
  • Historiker Karl Schlögel warnt: Europa steht erst am Anfang großer Prüfungen, keine Entspannung in Sicht.
  • Ostdeutsche Perspektiven fehlen, Kritik an Politikverdrossenheit und Grenzkontrollen wird laut.
  • Russische Teilnehmer berichten von repressiver Lage in Russland, kaum noch oppositionelle Stimmen.
  • Irina Scherbakowa: Putin will kein Kriegsende, Waffenlieferungen an die Ukraine bleiben entscheidend.

Die Zusammenfassung wurde durch künstliche Intelligenz erstellt.

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Er hätte Sorge gehabt, dass der Tag zu idyllisch und schön werden könnte, hier in der Uckermark zwischen Feldern, Feldsteinscheunen und mit üppig bestücktem Kuchenbuffet, bekennt der frisch gebackene Friedenspreisträger Karl Schlögel. Und hat sich deshalb Munition mitgebracht: einen Beitrag, den Sergei Gerasimow vor wenigen Tagen in der „Neuen Zürcher Zeitung“ veröffentlicht hatte. In seinem Kriegstagebuch schildert der ukrainische Schriftsteller, wie es ist, wenn eine Drohne in der Wohnung neben dir einschlägt, wenn Taxifahrer auf der Straße sterben – alltäglicher Horror eines Lebens im kriegsbelagerten Charkiw.

Karl Schlögel hat den Text nicht gebraucht. „Ich habe den Eindruck, wir alle hier wissen sehr genau, was in der Ukraine vor sich geht“, bescheinigt er dem Publikum in der voll besetzten Europa-Scheune. Still und beklommen lauscht man dort nach einem langen Tag voller Vorträge und Diskussionen Schlögels desillusionierter Einschätzung zur Lage und dem, was auf alle in Europa zukommt: „Wir sind am Anfang der Prüfungen, nicht am Ende“, konstatiert der Osteuropahistoriker, der seit Jahren zu den schärfsten Kritikern Putins gehört – auch oder gerade weil er lange Jahre so kenntnisreich wie kaum ein anderer über Russland, aber auch über ganz Osteuropa geschrieben hat.

Wenn vor fünf Tagen bekannt wurde, dass er in diesem Jahr mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird, dann gilt diese Auszeichnung auch einem, der in spätem Lebensalter noch einmal klar und kompromisslos die Seite gewechselt hat. Nun beschwört er die Anwesenden, auch angesichts der auch für ihn überraschenden Kapriolen auf der anderen Seite des Atlantiks: „Wir müssen auf alles gefasst sein.“

Europa-Tag auf dem Hof von Simon Strauss in der Uckermark

In der Tat: Es ist alles andere als idyllisch, auf dem schön gelegenen Hof des Schriftstellers und FAZ-Redakteurs Simon Strauss, auf dem sich nun zum dritten Mal Politik- und Kultur-Interessierte aus ganz Deutschland zum Europa-Tag eingefunden haben. Jedes Jahr am ersten Augustwochenende lädt der Verein Arbeit an Europa, ein Netzwerk junger Akademiker, Publizisten und Europa-Interessierter, hierher zur Diskussion. Ging es in den vergangenen Jahren um Polen, Litauen und das Verhältnis zwischen Ost und West, steht in diesem Jahr Russland auf dem Programm – mit allen Facetten, die die Debatte hierzulande seit der Invasion in die Ukraine 2022 prägen.

Das wurde vor allem im Schlusspanel deutlich, als europapolitisches Parteidenken auf regionale Basis traf. Während der Historiker Bastian Matteo Scianna gnadenlos aufzählte, was in der europäischen und vor allem deutschen Russlandpolitik spätestens seit 2014 schiefgelaufen war, verhakten sich die Politiker David Gregosz, für die SPD im Bundestag, und Sergey Lagodinsky, als Mitglied der Grünen im Europa-Parlament, in ziemlich hilflosen Appellen, wie man in absehbarer Zeit eine Verteidigungsfähigkeit in Deutschland und im zerrissenen Europa hinbekommen könne – und überhörten dabei konsequent die Stimme der Basis.

Marie Glißmann (SPD): „Der Mittelstand kotzt wegen der Grenzkontrollen“

Denn Marie Glißmann, die für die Prignitz bei der Europawahl 2024 kandidiert hatte und den Verein „Europa braucht Brandenburg“ gegründet hat, fand sehr deutliche Worte, um Europamüdigkeit und Politikverdrossenheit im ländlichen Raum Ostdeutschlands zu erklären. Dort, wo nach ihrer Diagnose die „Wendezeit noch immer nicht überwunden ist“, wo man sich nicht mitgenommen fühle von „denen da oben“ und etwa in Schwedt oder Eisenhüttenstadt mit großer Sorge auf Energiewende und wegbrechendes russisches Öl blicke, werde auch die Beziehung zu Osteuropa ganz anders gewertet als in bundes- und europapolitischen Gremien. „Der Mittelstand kotzt wegen der idiotischen polnischen Grenzkontrollen“, so Glißmann in ihrer Philippika, und Wladimir Putin wisse bestens Bescheid um die Schwächen des deutschen Nachwendeprozesses und nutze die Zerrissenheit des Landes und die Vulnerabilität Ostdeutschlands für seine Zwecke.

Viele interessierte Teilnehmer, aber zu wenig ostdeutsche Perspektiven: der Europa-Tag in Grünheide

Viele interessierte Teilnehmer, aber zu wenig ostdeutsche Perspektiven: der Europa-Tag in Grünheide

Christina Tilmann

Mit dieser Perspektive stand die streitbare Gleichstellungsbeauftragte aus Frankfurt (Oder) allerdings im illustren Kreis ziemlich allein da. Etwas mehr ostdeutsche Perspektive, auch etwas mehr Kontroverse und alternative Ansichten hätte man sich schon gewünscht, etwa durch eine Einladung des in der Nachbarschaft wohnenden und zuletzt wegen fortbestehender Russland-Kontakte schwer in die Kritik geratenen Ex-Ministerpräsidenten Matthias Platzeck.

Keine Opposition mehr in Russland vorhanden

Doch was an Diversität in der Besetzung der deutschen Diskutanten gefehlt haben mag, machten die eindringlichen und erschütternden Berichte der russischen Diskussionsteilnehmer wett. Sowohl der Journalist Iwan Kolpakow, der sein unabhängiges Online-Magazin „Meduza“ inzwischen von Riga aus betreibt, als auch der inzwischen in Potsdam lebende Schriftsteller Sergej Lebedew berichteten über die hoffnungslose Situation von zu „unerwünschten Personen“ erklärten Kollegen in Russland und die Schwierigkeit, im Land selbst noch unabhängig und kritisch zu schreiben.

Die langjährige Russland-Korrespondentin der FAZ Kerstin Holm, die die Gespräche moderierte, machte eine Liste der staatlichen Einschüchterungs- und Verbotsmaßnahmen, angefangen vom Fernsehen über die unabhängige Presse bis hin zu Literatur und Bildender Kunst aus. Und alle, auch die Historikerin Franziska Davies, waren sich einig, dass es eine nennenswerte Opposition in Russland angesichts von Angst und Lähmung kaum noch gebe.

Das bestätigte auch die Historikerin und als Mitgründerin der Menschenrechtsorganisation Memorial Friedensnobelpreisträgerin Irina Scherbakowa, die den kurzfristig verhinderten Ex-Außenminister Joschka Fischer ersetzte. Mit großer Bitterkeit berichtet sie von Besuchen damaliger Regierungsmitglieder in Russland und deren Unwillen, die Dramatik der Lage zu erkennen. Es sei alles viel zu spät und zu langsam passiert, beschreibt sie die Haltung Westeuropas zu Russland. Und sie macht sehr klar: „Putin ist nicht an einem Kriegsende interessiert, und das einzige, was ihn beeindruckt, sind Waffenlieferungen an die Ukraine“.