„Eine Revolutionärin, eine sicherheitsliebende Hausfrau und eine Sinnsuchende erzählen uns ihre so unterschiedlichen Lebensgeschichten aus ihrer jeweiligen Perspektive. Dabei stolpern sie über Widersprüchlichkeiten und Sollbruchstellen, die ihre Identitätskonstruktionen hinterfragen lassen. Die Frauen – eine Jüngere, eine Mittlere, eine Ältere – ringen um die richtige Darstellung ihres Lebens.“ Mit diesen Zeilen wurde das Theaterstück „Wir sind Hundert“ von Jonas Hassen Kehmiri beschrieben, das 2022 im Rahmen der Salzburger Festspiele aufgeführt wurde. Ein ähnliche Konstellation – wenngleich in einer gänzlich anderen Erzählform – ist der Ausgangspunkt von Khemiris Roman „Die Schwestern“, der gerade in den internationalen Feuilletons mit Lobeshymnen gewürdigt wird – völlig zu Recht. Und auch der Vergleich mit Literatur-Granden wie Jonathan Franzen oder Karl Ove Knausgård ist nicht zu hoch gegriffen, denn auch Khemiri erzählt eineFamiliengeschichte, die die gesellschaftliche Gegenwart und ihre Verwerfungen widerspiegelt.

Raffiniertes Verwirrspiel auf höchstem Niveau

Im Zentrum des Geschehens, das sich auf mehr als 700 Seiten im Zeitraum zwischen der Jahrtausendwende bis ins Zukunftsjahr 2035 erstreckt, stehen die Mikkola-Schwestern, wie der Autor selbst schwedisch-tunesischer Herkunft. Ina ist die vernünftige Pedantin, Evelyn die funkelnde Geschichtenerzählerin und -erfinderin, Anastasia die charismatische Künstlerfigur. Belegt ist das Trio mit einem Fluch – vermutlich selbst auferlegt – der besagt, dass alles, was sie lieben verlieren werden. Der Ich-Erzähler wiederum heißt Jonas, ist ebenfalls schwedisch-tunesischer Abstammung – wie der namensgleiche Autor selbst. Ein raffiniertes Verwirrspiel auf höchstem Niveau, die Autofiktion verknüpft mit den fiktiven Schwestern-Biografien. Der Erzähler Jonas begegnet den Mikkola-Schwestern als Kind in Stockholm und befreundet sich mit Evelyn. Oder nicht?

Der Erzählstrom von Khemiri ist ebenso fluide wie es die Identitäten seiner Figuren sind. Doch es wäre zu kurz gegriffen, „Die Schwestern“ als reine Herkunftsgeschichte zu lesen. Vielmehr geht es um die literarische, aber auch reale Tatsache, dass wir zwar ein Leben führen, aber meist nicht ein Leben lang dieselbe Person sind. Mit gewichtiger Leichtigkeit führt Jonas Hassen Khemiri durch Raum, Zeit und Milieus. Sein Stil ist ebenso orientalisch üppig wie nordisch schlicht. Am Ende vermischen sich die Biografien des Erzählers, Autors und der Mikkola-Schwestern immer mehr. Daraus ergibt sich ein mächtiger Roman, der dieser gerne totgesagten Gattung pulsierendes Leben einhaucht.

Jonas Hassen Khemiri. Die Schwestern. Rowohlt, 732 Seiten, 26,50 Euro.