Interview | Geschlechtstests in Leichtathletik

„Was solche Tests mit den Athletinnen machen, kann man sich kaum vorstellen“

Eine Gruppe Läuferinnen, angeführt von Caster Semenya. Die Südafrikanerin stand lange im Zentrum der Debatte um DSD-Athletinnen (imago images/Andreas Gora)Bild: imago images/Andreas Gora

Der Leichtathletik-Weltverband verpflichtet zukünftig alle Athletinnen zu einem Gentest, um ihr biologisches Geschlecht zu überprüfen. Die Berliner Läuferin und Sportmedizinerin Deborah Schöneborn sieht das zwiespältig.

Leichtathletinnen müssen sich ab September einem einmaligen Gentest unterziehen, um bei großen Meisterschaften in der Frauenklasse an den Start gehen zu dürfen. Das hat der Weltverband World Athletics am Mittwoch mitgeteilt.

Der Test auf das sogenannte SRY-Gen, einem laut Mitteilung „zuverlässigen Indikator für die Bestimmung des biologischen Geschlechts“, werde entweder mittels eines Wangenabstrichs oder einer Blutuntersuchung durchgeführt.

Von Athletinnen wie der zweimaligen Olympiasiegerin Caster Semenya, die als Person mit „Abweichungen in der sexuellen Entwicklung“ eingestuft wird, hatte World Athletics zuletzt bereits gefordert, dass sie ihren Testosteronspiegel durch Medikamente künstlich senken, um an internationalen Wettkämpfen teilnehmen zu können [mehr auf „sportschau.de“].


rbb|24: Frau Schöneborn, ab dem 1. September müssen sich alle Leichtathletinnen, die an Weltranglistenwettbewerben teilnehmen wollen, einem einmaligen Geschlechtstest unterziehen. Auch die kommende WM in Tokio ist davon bereits betroffen. Warum geht der Weltverband diesen Schritt?

Deborah Schöneborn: Die vorherige Regelung besagte, dass DSD-Athletinnen (Sportlerinnen mit Unterschieden in der Geschlechtsentwicklung, Anm. d. Red) ihre Testosteronwerte mithilfe von Medikamenten in den Frauenbereich drücken müssen, dann aber weiter teilnehmen dürfen. Die Frage ist, ob das ausreicht, wenn jemand in der Vergangenheit bereits erhöhte Testosteronwerte hatte und dadurch beispielswiese die männliche Pubertät durchgemacht hat, in der ja die Knochen und Muskeln ausgebildet werden. Die Antwort des Verbandes ist ein klares Nein. Man möchte um jeden Preis die Integrität des Frauensports schützen. Jede DSD-Athletin, die mal zu hohe Testosteronwerte gehabt hat, hat in den Augen von World Athletics (Name des Weltverbandes, Anm. d. Red.) einen Vorteil und ist deshalb nicht mehr startberechtigt.

Zur Person

Deborah Schöneborn bei der Leichtathletik-EM in Rom (imago images/Beautiful Sports)

imago images/Beautiful Sports

Die 31-jährige Deborah Schöneborn geht als Langestrecken- und Marathonläuferin für den SC Charlottenburg an den Start. Bei den Olympischen Sommerspielen 2021 in Tokio beendete sie den Marathon als fünftbeste Europäerin im Feld.

Zudem studierte sie Medizin an der Charité, praktiziert in Berlin als Sportmedizinerin und hielt zum Thema DSD-Athletin vor kurzem einen Vortrag an der Uniklinik in Innsbruck.


Wie funktioniert der Test und wie genau ist er?

Es wird eine Gentestung des sogenannten SRY-Gens gemacht. Das ist ein Gen, das nur biologische Männer haben, also Personen mit einem Y-Chromosom. Es ist unter anderem dafür verantwortlich, dass Männer höhere Testosteronwerte haben. Dieser Test war früher einfach methodisch noch nicht möglich, aber er ist der genaueste, was die Aussagekraft über Testosteron angeht. Ob es dadurch aber auch fairer wird, lässt sich sicherlich diskutieren.


Dann steigen wir doch mal in diese Diskussion ein. Wie bewerten Sie das Vorgehen des Weltverbandes?

Ich bin sehr zwiegespalten. Für mich gibt es eigentlich keine richtig faire Lösung. Man muss sich nur mal die Geschichten der betroffenen Athletinnen anhören, die sich ja ihr ganzes Leben als Frauen definiert haben. Nehmen wir zum Beispiel Caster Semenya, die ja auch bei diversen Gerichtsverhandlungen recht bekommen hat, weil sie diskriminiert wurde. Sie wusste nichts davon, dass sie ein Y-Chromosom hat, weil sie eben eine Störung hat, die dafür sorgt, dass das SRY-Gen nicht so gut funktioniert und sie äußere weibliche Geschlechtsmerkmale hat. Was solche Tests mit den Athletinnen machen, kann man sich kaum vorstellen. Das wünscht man niemandem.


Und doch haben DSD-Athletinnen ja einen entscheidenden Vorteil.

Leistungssport ist am Ende ganz viel genetische Auswahl. Es ist schon klar, dass das SRY-Gen einen großen Unterschied macht. In der Leichtathletik geht man von einem Leistungsvorteil von 10 bis 30 Prozent aus. Das lässt sich nicht negieren. Und aus meiner Athletinnen-Perspektive muss ich auch sagen: Wenn ich an der Startlinie stehe und ich weiß, jemand hat vielfache höhere Testosteronwerte, dann habe ich einfach keine Chance. Da kann ich so viel trainieren, wie ich will. Auf der anderen Seite haben die Athletinnen ja nicht gedopt oder aktiv etwas falsch gemacht. Soll man sie dafür bestrafen, dass sie aus sportlicher Sicht das „Glück“ haben, eine genetische Normvariante zu haben, die ihnen erlaubt besonders gut im Leistungssport zu sein? In anderen Bereichen des Lebens werden sie dafür sicherlich sehr viele Nachteile haben. Athletinnen vom Sport auszuschließen wegen etwas, das ihnen genetisch vorgegeben ist, finde ich sehr unfair und möchte auch wirklich nicht tauschen.

Sie haben sich jahrelang angepasst und die Medikamente genommen. Die Tests auf das SRY-Gen bedeuten nun das Ende ihrer sportlichen Laufbahn.

Deborah Schöneborn über DSD-Athletinnen, die ihren Testosteronspiegel gedrückt haben


Welche Auswirkungen werden die Tests haben? Erwarten Sie, dass es dadurch zu einigen Ausschlüssen von den Wettbewerben kommen wird – auch überraschenden?

Ich selbst bin noch nicht wissentlich gegen eine DSD-Athletin gelaufen. Es gab ja bereits in den letzten Jahren eine sehr strenge Regelung, durch die man seine Testosteronwerte drücken musste. Ich weiß nicht genau, wie viele Athletinnen tatsächlich davon betroffen sind und Medikamente genommen haben. Aber ich glaube, die Dunkelziffer ist da gar nicht so groß. Zumindest international sind die meisten betroffenen Athletinnen bereits bekannt. Sie wird es aber hart treffen. Sie haben sich jahrelang angepasst und die Medikamente genommen. Die Tests auf das SRY-Gen bedeuten nun das Ende ihrer sportlichen Laufbahn.


Gäbe es aus Ihrer Sicht bessere Lösungen?

Ich glaube, man müsste die Tests schon viel früher im Leben durchführen, damit die betroffenen Menschen nicht erst ihre Karriere auf den Leistungssport ausrichten. Denn das Schlimme ist ja, dass Identitäten in Frage gestellt werden und den Betroffenen plötzlich gesagt wird, sie seien jetzt keine Frauen mehr und dürften deshalb nicht mehr starten. Die Umsetzung solcher Tests ist natürlich schwierig. In Europa und Deutschland ist das bei sportmedizinischen Untersuchungen im Jugendalter sicherlich einfacher als in Entwicklungsländern. Aber dieses Vorgehen wäre das erste, was mir als Lösung in den Sinn kommen würde, um eben nicht Existenzen und Identitäten zu zerstören.


Die Testungen sollen von den nationalen Verbänden übernommen werden. Ist das der richtige Weg?

Sorge vor Manipulation gibt es natürlich immer. Das ist beim Thema Doping genau das gleiche. Auf der anderen Seite handelt es sich hierbei um einen einmaligen Test, der mit Sicherheit auch aus logistischen Gründen an die nationalen Verbände übertragen wurde. Zumindest Stichprobenkontrollen könnte ich mir aber international vorstellen.


Wird in Deutschland bereits getestet?

Ich wurde noch nicht aufgefordert, mich zu testen. Und auch von den WM-Starterinnen, die ich kenne, musste noch keine einen Abstrich abgeben. Aber das wird sicherlich in den nächsten Wochen kommen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Lukas Witte, rbb Sport.

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