Im vergangenen Jahr hat das Historische Museum Frankfurt am Main eine Ausstellung mit dem Titel »Stadt der Fotografinnen 1844–2024« gezeigt und in diesem Rahmen vierzig Frankfurter Künstlerinnen aus zwei Jahrhunderten vorgestellt. Das war gut gemeint, aber doch auch ganz schön dreist! Denn wenn es eine Stadt der Fotografinnen in Deutschland gibt, dann heißt die natürlich Berlin.
Ende der 1920er Jahre waren im Adressbuch der Hauptstadt rund vierhundert fotografische Ateliers verzeichnet, etwa zu einem Viertel von Frauen geleitet. Ungefähr vierzig von ihnen hoben sich durch besondere Qualität hervor, darunter ein erheblicher Anteil jüdischer Fotografinnen, die in den 1930er Jahren emigrieren mussten, verfolgt oder sogar ermordet wurden.
Berlin hat sich mit diesem Thema bisher nicht oder nur ansatzweise auseinandergesetzt, während in Österreich schon lange dazu geforscht und publiziert wird. »Vor 1938 gab es in Wien eine außergewöhnliche große Zahl an Fotoateliers, die in weiblicher jüdischer Hand waren«, hieß es 2012/13 zur Ausstellung »Vienna’s Shooting Girls« im Jüdischen Museum; vierzig Künstlerinnen wurden damals mit ihren Werken präsentiert. Dazu erschien ein Bildband, in dessen Anhang Kurzbiographien sämtlicher ermittelten Fotografinnen nachzulesen sind. Berlin, ehemalige Reichshauptstadt und der historische Ort, wo die »Endlösung der Judenfrage« beschlossen und in die Wege geleitet wurde, verfügt noch nicht über einen solchen Überblick.
Es gab hier aber immerhin Einzelausstellungen zum Thema, vor allem im Verborgenen Museum in Charlottenburg, über Marianne Breslauer, Steffi Brandl, Lotte und Ruth Jacobi, Frieda Riess, Eva Besnyö, Gerty Simon und Yva sowie entsprechende Kataloge. Hinzu kamen separate Publikationen über Charlotte Joël (siehe jW vom 25. 1. 2020). Letztere gehörte zu den Berliner jüdischen Fotografinnen, die dem planmäßigen Massenmord der Nazis zum Opfer fielen – ebenso wie Else Ernestine Simon, geborene Neulaender, die als Yva firmierte und spätestens, als sich Starfotograf Helmut Newton als ihr Schüler zu erkennen gab, weltbekannt wurde.
Yva nimmt daher eine besondere Position unter ihren Kolleginnen ein. Bereits vor zwanzig Jahren wurde in Charlottenburg ein Stolperstein für sie verlegt. 2011 wurde der »Yva-Bogen«, eine Passage am Stadtbahnviadukt zwischen Hardenberg- und Kantstraße, nach ihr benannt. 1995 zeigte die Berliner Galerie Bodo Niemann ihre Bilder (»Yva. Eine Berliner Fotografin der dreißiger Jahre«). 2001 folgte im Verborgenen Museum die Ausstellung »Yva – Photographien: 1925–1938«. Der Katalog ist bis heute das Standardwerk zum Thema, antiquarisch entweder gar nicht mehr oder nur zu Höchstpreisen zu bekommen. (Übrigens sind die Urheberrechte an den Fotos erst 2012 bzw. 2014, also 70 Jahre nach dem Tod Else Simons, ausgelaufen. Offensichtlich hat man sich darüber hinweggesetzt, weil kein Rechtsstreit zu befürchten war.) 2009 kam eine weitere, kleinere Publikation über Yvas Modefotografie der 1930er Jahre heraus, die ebenfalls vergriffen und selbst antiquarisch kaum verfügbar ist. Ausstellungen gab es in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder, zuletzt Anfang Mai in der Berliner Galerie Mond.
Die Autorinnen der genannten Kataloge, Marion Beckers und Elisabeth Moortgat, beklagten die »nahezu totale Vernichtung von Zeugnissen und Dokumenten«, die allerdings eher typisch als ungewöhnlich erscheint. Künstlerische Fotografie ist zwar schon lange als sammelwürdig anerkannt, die Biographien und Nachlässe ihrer Schöpfer und Schöpferinnen galten jedoch lange nicht als wichtig genug für Museen und Archive. Insofern stießen Fotografen und erst recht Fotografinnen innerhalb der Kunstszene nur selten auf Forschungsinteresse. Die Vertreibung und Enteignung linker und jüdischer Künstler durch die Nazis hat ein übriges getan. Ihr folgten Jahrzehnte des »Vergessens« beziehungsweise Verdrängens. Daher ist schon von glücklichen Umständen zu reden, wenn überhaupt noch irgendwelche Schriftstücke, Selbstzeugnisse und biographischen Dokumente zu ermitteln sind.
Originale von Yvas Fotografien befinden sich heute vor allem in den Archiven von Ullstein-Bild und der Agentur Schostal (DHM) sowie im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe; immerhin wurden so noch über vierhundert Motive verzeichnet.
Die Berliner Lehramtsstudentin Ira Buran hatte schon vor 1992 für eine Hausarbeit engagiert nach Spuren der Fotografin gesucht und dafür unter anderem deren OFP-Akte (Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg) ausgewertet. Es konnten auch Zeitzeugen wie Elisabeth Röttgers, die in den 1930er Jahren im Atelier Yva gearbeitet hatte, befragt werden. Die biographische Darstellung in den genannten Publikationen beruht auf diesen Forschungen. Seitdem, also seit über einem Vierteljahrhundert, scheinen keine wesentlichen Erkenntnisse hinzugekommen zu sein.
Atelier auf dem Ku’damm
Else Ernestine Neulaender wurde am 26. Januar 1900 als jüngstes Kind einer bürgerlichen jüdischen Familie in der Tempelhofer Vorstadt von Berlin (seit 1921 Kreuzberg) geboren. Sie verlor mit sieben Jahren ihren Vater. Die Mutter verdiente danach als Inhaberin eines Putz- und Modegeschäfts den Unterhalt.
Um 1920 soll Else eine Ausbildung im Atelier der Fotografin Suse Byk absolviert haben. Im Alter von 25 Jahren gründete sie, vermutlich mit finanzieller Unterstützung ihres neun Jahre älteren Bruders Ernst Neulaender, Mitinhaber der Textil- und Modehandlung Kuhnen, ihr erstes Fotoatelier in der Friedrich-Wilhelm-Straße 17 (heute Klingelhöferstraße) in Berlin-Tiergarten.
Schon bald machte sie mit aufwendigen fotografischen Experimenten auf sich aufmerksam, bei denen sie anfangs mit ihrem Kollegen Heinz Hajek-Halke zusammenarbeitete. Der Durchbruch gelang ihr 1927 mit einer Einzelausstellung in der Berliner Galerie Neumann-Nierendorf, in der sie hundert ihrer Fotos zeigen durfte. Im Herbst 1930 zog sie mit ihrem Atelier in die Nähe des Kurfürstendamms, in die Bleibtreustraße 17.
Die Machtübernahme der Nazis änderte zunächst scheinbar wenig an ihrer Geschäftspraxis. 1934 heiratete sie den Kaufmann Alfred Simon, mit dem sie laut OFP-Akte in »Gütertrennung« lebte. Im Frühjahr 1934 bezog sie ein neues, riesengroßes Atelier in einer Prachtvilla an der Schlüterstraße 45 (Ecke Kurfürstendamm), wo sich später das Hotel Bogotà befand. Noch bis Mitte der 1930er Jahre konnte sie ihre Position in der Modefotografie und Werbung behaupten, sie beschäftigte bis zu zehn Angestellte. 1936 soll sie einer nichtjüdischen Freundin, der fünf Jahre älteren Berliner Kunsthistorikerin Charlotte Weidler, Kuratorin am Carnegie Institute of Art in Pittsburgh (USA), die offizielle Leitung des Ateliers übertragen haben. Danach erschienen ihre Bilder zumindest bis 1937 unter der Bezeichnung »Presse-Photo Yva« und sollen über den Pressedienst Weidlers vertrieben worden sein.
Deren Rolle ist jedoch dubios. Sie verließ Deutschland 1939 und soll sich an Werken des jüdischen Kunstsammlers Paul Westheim bereichert haben, mit dem sie ebenfalls befreundet war.¹ Ähnliche Vorwürfe in bezug auf Werke von George Grosz aus dem Besitz des Kunsthändlers Alfred Flechtheim, die Weidler an das Museum of Modern Art in New York verkauft hatte, wurden noch in den 2000er Jahren von den Grosz-Erben erhoben und vor Gericht verhandelt.
1936 begann der 16jährige Helmut Neustaedter, später als Helmut Newton berühmt, eine Lehre bei Yva. In seinen 2003 erschienenen, selbstgefälligen und geschwätzigen Erinnerungen hat er wenig informativ darüber berichtet. Er emigrierte ein halbes Jahr nach den Novemberpogromen aus Deutschland. Die ratlose Frage von Beckers/Moortgat »Warum hat Yva die Gefahr, die ihr drohte, nicht gesehen?« konnte auch Newton nicht beantworten. Die Fotografin habe sogar ein Angebot des Magazins Life aus den Vereinigten Staaten erhalten. Ihr Mann habe jedoch nicht emigrieren wollen, weil er die englische Sprache nicht beherrschte.² Ende 1938 musste auch Yva ihr Atelier aufgeben, aber noch 1939 sind Veröffentlichungen ihrer Fotos mit Namensnennung in Zeitschriften nachweisbar.
Sie arbeitete dann gezwungenermaßen als Röntgenassistentin im Jüdischen Krankenhaus von Berlin, ihr Mann musste sich als Straßenkehrer verdingen. Beide wohnten zuletzt in der Bamberger Str. 49 in Schöneberg in einem möblierten Zimmer als Untermieter.³ Sie hatten inzwischen doch ihre Emigration nach Übersee vorbereitet, die Transoceanic Speditions-Gesellschaft lagerte 34 Kisten mit Transportgut im Hamburger Hafen. Leider war es zu spät. Durch Bombenangriffe sollen 21 der Kisten zerstört worden sein, der Inhalt der übrigen wurde später versteigert, das Ehepaar hatte aus »Transport- und Lagerkosten« ca. 2.000 Reichsmark Schulden.
Das OFP-Formular vom 2. Juni 1942, in dem die letzten Besitztümer des Ehepaars aufgelistet wurden, weist dessen völlige Verarmung durch Ausplünderung aus. Dabei war Yva nach dem Tod ihres Bruders Ernst im Frühjahr 1942 noch dessen Erbin geworden. Ihre letzte Wohnung wurde Anfang August 1942 geräumt, das Inventar Ende Juli auf den Wert von 215 RM geschätzt und einem Einzelhändler übergeben.
Am 2. Juni 1942 wurden Yva und ihr Mann mit dem 14. Transport von Berlin aus in das Konzentrationslager Maidanek deportiert. Frauen und Kinder wurden unterwegs vermutlich direkt nach Sobibor umgeleitet und dort ermordet. Von Anfang Mai bis Ende Juli 1942 sollen in dem Vernichtungslager bis zu 90.000 Juden fabrikmäßig getötet worden sein.
Im Dienst der Presse
Beckers und Moortgat führen aus, Yva habe sich vor allem als Gebrauchsfotografin verstanden. Die Gebrauchsfotografie sei allerdings mit dem »Makel« behaftet, »sich nicht aus eigener Intention frei, sondern – durch Auftrag und Anwendung in künstlerischer Hinsicht eingeschränkt – nur begrenzt entfalten zu können«. Sie sei »kurzlebigen Moden« unterworfen, Sujets und Motive »zudem am Geschmack des Massenpublikums orientiert«.⁴
Letzteres trifft nur bedingt zu, denn Yva fotografierte anscheinend bevorzugt für »gehobene« Kreise und wohlhabende Konsumenten. Sie belieferte Zeitschriften wie Die Dame, Sport im Bild, Uhu, die Berliner Illustrirte Zeitung und die Illustrirte Zeitung (Leipzig) vor allem mit Gesellschafts- und Modeaufnahmen.
Sie produzierte auch mehrere ironische Bildgeschichten für den Uhu, die beschreiben, wie zum Beispiel »Kätchen Lampe aus Braunschweig« nach Berlin und durch Männerbekanntschaften zum Film kommt, wo sie unter dem Namen »Karin Lampé«, angeblich schwedischer Herkunft, reüssiert und zuletzt von ihrem Regisseur geheiratet wird.
Als raffinierte Technikerin hatte Yva Mehrfachbelichtungen zunächst kreativ genutzt, um auf sich aufmerksam zu machen, alsbald setzte sie experimentelle Fotos auch kommerziell ein, etwa für die Bewerbung der Verjüngungscreme »Amor Skin« von Opoterapia.⁵
Im Kriminal-Magazin veröffentlichte sie im Mai 1929 »Das Grauen«: eine Frau in Halbfigur mit weit offenem Mund, aufgerissenen Augen und abwehrend zur linken Seite gespreizten Händen, darüber ein Männergesicht mit aufgerissenen Augen und Mund, schräg rechts darüber ein Teil eines Männergesichts mit noch weiter geöffnetem Mund. Das ist weniger eine künstlerische Umsetzung der menschlichen Physiognomie des Erschreckens als eine nahezu karikaturistische Montage von Grimassen.
Der Vorwurf der Effekthascherei hätte Yva sicherlich nicht getroffen – jeder Effekt wurde von ihr benutzt, wenn er dazu beitrug, sich von der Konkurrenz zu unterscheiden. Bei Bedarf fertigte sie auch Produktstilleben und Genreszenen für ihre Kundschaft. Der Abdruck eines Fotos brachte im Durchschnitt 25 Mark, eine Titelseite bei der Berliner Illustrirten wie etwa »Ein Augenblick des Glücks« Anfang November 1932 stolze 300 Mark.
Modefotos und Werbung
Yva hatte sich 1929 als Modefotografin etabliert, dabei half auch ihr Bruder Ernst, dessen Modehaus ihr Aufträge erteilte. Um ihren besonderen Stil zu analysieren, müsste man ihre Aufnahmen mit denen anderer entsprechend spezialisierter Kollegen der Zeit wie dem Atelier Marion, Becker & Maass, Gertrud Hesse, Ernst Schneider, Sandau, Harlip oder Kitty Hoffmann vergleichen, was jedoch bisher nicht geschehen ist. Kaum von Nutzen ist dabei die Feststellung von Beckers und Moortgat, dass Yva ihre Modelle »streng vertikal« positionierte und »in leichter Untersicht« aufnahm, weil das damals für fast alle Modefotos galt.
Yva bevorzugte klare graphische Hintergründe, zuweilen mit dekorativen Elementen, was auch von der Londoner Zeitschrift für Gebrauchsgraphik und Werbung Commercial Art 1928 hervorgehoben wurde. Berühmt wurde ihre Aufnahme von einem Paar schräg gestellter Damenbeine in teuren Strümpfen und Schuhen, die unter anderem als Werbung von der Firma Mimosa verwendet wurde. Die Glasplatte dieses Motivs ist erhalten geblieben. »Yva photographierte Dutzende von Beinen, als Blickfang in anzüglich aufreizenden Illustriertenszenen oder als Bildmotiv für Strumpfwerbung.«⁶ Eine Schmuckaufnahme zeigt eine schwarz maskierte Frau, von der nur das Kinn, der Hals und das Dekolleté sowie ihr linker Unterarm und eine Hand zu sehen sind, auf diesen Partien sind Halskette, Armreif und Fingerring arrangiert.
Die attraktiven Models spielten dabei natürlich eine wichtige Rolle. »Wir mussten wie Mädchenhändler arbeiten«, erzählte Elisabeth Röttgers: »Gesicht, Augen, Hände, Beine und die Figur – alles wurde begutachtet und am Ende per Stück vorgeführter Garderobe mit 5,- Mark bezahlt. Höchstgage pro Tag bei einer besonders aufwendigen Inszenierung lag bei 25,- Mark.« Noch 1936 sprach die Chefin persönlich auf dem Kurfürstendamm die 22jährige Karin Stilke an und bat sie, sich für Modeaufnahmen zur Verfügung zu stellen. Stilke gilt heute als »Deutschlands erstes Topmodel«.
Yvas Fotos wurden Teil der Werbeanzeigen zum Beispiel für Schwarzkopf Schaumpon, für Brennabor-Autos, BHs von Hautana, Creme Mouson, Nowa-Strümpfe, Gesichtswasser von Scherk und Badeanzüge von Roeckl. Helmut Newton erinnerte sich, dass auch Pelz- und Unterwäschekataloge hergestellt wurden. 1937/38 verwendete die Creme Mouson-Werbung mehrere Aufnahmen Yvas, wobei in den Anzeigen ihr Name nicht erschien, so dass die Zuordnung nur möglich war, weil das Original eines Fotos erhalten geblieben ist. Inzwischen wurde es mehrfach reproduziert: das »nackte« Gesicht einer mit einem weißen Handtuch bekleideten jungen Frau mit weißer Badekappe wirkt durch ihre »interessante« Gestik mit zwei gespreizten Fingern am rechten Auge wie ein exzentrisches Porträt. Tatsächlich sollten mit den Abbildungen nur bestimmte Handgriffe illustriert werden, mit denen Frauen nach dem Bad die Creme in ihr Gesicht zu massieren hatten, im konkreten Fall, um Krähenfüßen an den Augen vorzubeugen; entsprechende Anleitungen standen in den Anzeigen.
Nackte Illusionen
»Yva hat ihrer Aktfotografie offenbar immer eine besondere Bedeutung beigemessen und sie wohl auch in einer gesonderten Mappe bis 1942 aufbewahrt«, berichtete ihre Mitarbeiterin Röttgers.⁷ So war sie 1933 auf dem 1. Pariser Salon der Aktfotografie (»Nus. La beauté de la femme«) unter anderem mit einem Foto (»Danse«) vertreten, das die unbekleidete Tänzerin Claire Bauroff vierfach auf eine Platte belichtet zeigt, während sie die Arme hebt, dergestalt einer achtarmigen indischen Göttin ähnlich. Das Foto war schon 1930 im Magazin Uhu unter dem Titel »Seestern« abgebildet gewesen. Aufnahmen wie »Aktgeometrie« zeigen, dass Yva versuchte, dem Genre einen experimentellen Reiz abzugewinnen, aber ihre Resultate wirken im Vergleich mit den Werken ihrer Kollegen aus dem Pariser Katalog von 1933 beinahe zaghaft.
Kühner waren ihre Darstellungen archaisch maskierter Frauen, nur mit einem Tuch halb verhüllt oder nackt, ein Schwert schwingend. Das »Wilde« und »Natürliche« war für sie nur als artifizielle Inszenierung denkbar, weder »Blut und Boden« noch »das Weib« als solches existierten in ihrer Vorstellungswelt. Ihre Einstellung zum weiblichen Körper war offenkundig kompliziert und von Fetischismus überformt. Man sieht schlanke bestrumpfte Frauenbeine, verbogene Körper, erstarrte Posen, Frauen mit abgewandtem Gesicht oder leerem Blick. Sie haben erotische Macht durch Verkleidung, durch Drapierung und gezielte Entblößung.
»Im Grase« (1932) zeigt die Schauspielerin Molino von Kluck in einem gestreiften Sommerkleid auf der Wiese liegend, den rechten Arm weit von sich gestreckt, das dunkel bestrumpfte rechte Bein so aufgestellt, dass ein Streifen vom nackten Oberschenkel sichtbar wird – das ganze Bild ist auf diesen lasziven Effekt hin komponiert. Wie auch Yvas in einem Magazin veröffentlichtes Foto »Das Spitzenhemdchen«, auf dem wieder Strümpfe und darüber ein Stück Haut zu sehen sind. (Man erinnert sich an Marlene Dietrichs Werbefotos von Martin Badekow, auf denen sie um 1927 in Unterwäsche mit Strapsen posierte, bevor sie einige Jahre später ähnlich kostümiert als Lola im »Blauen Engel« ihren Durchbruch erzielte.)
Das alles entsprach dem Zeitgeschmack der »wilden« zwanziger Jahre, aber anscheinend hat Yva so auch nach den ihr entsprechenden Formen des Voyeurismus und nach Inszenierungen des eigenen Begehrens gesucht. Vielleicht sind die gewagtesten Produkte ihrer Arbeit nie veröffentlicht worden, sondern mit ihr untergegangen.
Von Erotik ist in den Büchern über sie kaum die Rede, dabei galt ihr Interesse nicht nur der Aktfotografie, sondern auch einem kühl berechneten Sex-Appeal der Modefotos. Die von ihr geschickt ausgerichteten Models erstarren in ihrer Makellosigkeit ungerührt, geradezu unbeteiligt, wie fleischfressende Pflanzen, die Leim produzieren, an dem die zu verspeisenden Insekten klebenbleiben sollen. Helmut Newtons Ästhetik war von dieser Verbindung von Modefotografie und Erotik nachhaltig geprägt. Er hat den Fetischcharakter seiner Akte auf die Spitze getrieben und teils grenzwertigen sadistischen Phantasien gefrönt, sehr zum Missfallen von Feministinnen wie Alice Schwarzer.
Verkannte Porträtistin?
Die Autorinnen der beiden Publikationen halten Yva für keine begnadete Porträtfotografin. Auffällig sind in der Tat ihre zahlreichen Porträts von hinten oder mit abgewandtem Blick. Ganz offensichtlich mochte sie die Konfrontation von Angesicht zu Angesicht nicht besonders, geschweige denn die Vertiefung in die seelischen Dimensionen ihres Gegenübers, die Ergründung von Charakteren und Stimmungen, die etwa Charlotte Joël meisterhaft beherrschte. Deshalb sind im Bildband nur einige Porträts abgedruckt, darunter die der Schauspielerinnen Asta Nielsen (von hinten) und Lil Dagover (von hinten), entstanden im Rahmen einer witzig gemeinten Serie für ein Magazin. Eindrücklicher wirkt das Foto des Malers Max Liebermann (von hinten) in seinem Atelier beim Betrachten seiner Werke. Yva selbst wurde 1930 von einem unbekannten Fotografen – vielleicht einem ihrer Assistenten – aufgenommen, während sie den Berliner Bildhauer Hugo Lederer in seinem Atelier fotografierte. 1927 holte sie die ehemalige Kronprinzessin Cecilie und deren zwei Töchter vor ihre Kamera. Ihr gelang ein eher konventionelles Abbild der Mutter (von vorn) und ein verständnisvoller Blick auf die jungen Mädchen.
Obwohl selbst kinderlos, betrieb Yva auch Kinderfotografie. Dass sie sich dieser »Pflicht« nicht entzog, geht aus dem Verzeichnis ihrer ersten Berliner Ausstellung hervor, doch Beispiele sind in den Publikationen über sie nicht zu sehen.
Ebenso wenig wie etwa ihre Porträts der Schriftsteller Erich Kästner und Vicki Baum, die eher charmant als tiefgründig gerieten, zwei lächelnde Partylöwen. Doch Kästners Augen schauen weise und traurig aus den verspielten Licht- und Schattenpartien seines Gesichts.
In einem Uhu-Artikel von 1932 (»Männer vor der Kamera«) ist eine Wand von Yvas Atelier mit weiteren einfühlsamen Porträts zu sehen. Bei ihr fanden sich auch Schauspieler und Schauspielerinnen ein, die abgelichtet zu werden wünschten, wie Olga Tschechowa, Käthe von Nagy, Dolly Haas, Brigitte Horney und Lucie Englisch, Paul Hörbiger, Luis Trenker, Karl Ludwig Diehl und Otto Gebühr. Dessen Abbild frappiert besonders, da der prominente Darsteller des »Alten Fritz«, einen großen, modisch gemusterten Schal um den Hals gewunden, so bezaubernd queer aussieht, wie es sein historisches Alter Ego nie sein durfte.
Es ist unschwer zu erraten, warum sich Schauspieler gern im Atelier Yva fotografieren ließen. Gefragt waren raffinierte Posen und neckische Mimik, schicke Klamotten und ausgefallene Accessoires unter glamouröser, manchmal geheimnisvoller Beleuchtung – kurz, der schöne Schein in seiner scheinheiligsten Form, bis an die Grenze der Parodie getrieben und dadurch schon wieder amüsant.
Verkauft wurden die reizvollen Porträts, die sich aus der Masse ähnlicher Ware hervorheben, als Ansichtskarten vom Ross-Verlag; als solche sind sie bei Sammlern bis heute heißbegehrt. In den Publikationen über Yva werden sie jedoch nicht einmal erwähnt.
Als Porträtistin darf sie schon deshalb nicht unterschätzt werden, weil ihr berühmtes frühes Selbstbildnis ein Meisterstück ist. Darauf schaut sie dem Betrachter gerade, ernst und aufrichtig in die Augen, die erhobenen Hände mit einer quasi christlichen Geste vor der Brust gekreuzt, als wollte sie sagen: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Dieses doppelt belichtete Foto war 1926 durch Kooperation mit Heinz Hajek-Halke entstanden, der den Hintergrund zur Verfügung stellte. »Somit ist das Selbstbildnis eine Bildkomposition aus gemalten geometrischen und amorphen Konfigurationen, in die das ebenmäßige Oval des Gesichts mit den schwarzen Keilen und konzentrischen Kreisformen als Form unter Formen hineinspielt«, heißt es im Onlinekommentar des Verborgenen Museums zur Ausstellung von 2001.⁸ Doch wäre es falsch, dieses Foto nur unter technischen Gesichtspunkten zu loben, wobei psychologisch interessant ist, dass Yva offensichtlich die »nackte« Darstellung ihres Gesichts scheute.
Die Intentionen und Ambitionen der Fotografin jenseits ihres kommerziellen Interesses sind schwer zu durchschauen. So bleibt sie rätselhaft, und es wäre noch viel zu recherchieren, viel zu hinterfragen, um sie, falls das überhaupt möglich ist, doch noch zu ergründen.
Anmerkungen
1 https://en.wikipedia.org/wiki/Charlotte_Weidler
2 Helmut Newton: Autobiographie. München 2005, S. 77
3 Die folgenden Angaben entstammen der OFP-Akte von Alfred und Else Simon im Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam, Sn. 36A (II) 35818, Bl. 28–48
4 Marion Beckers/Elisabeth Moortgat: Yva. Photographien 1925–1938. Ausstellungskatalog Das Verborgene Museum 2001. Berlin 2001, S. 7f.
5 https://www.jmberlin.de/objekt-yva-amor-skin
6 Beckers/Moortgat (Anm. 4), S. 133
7 Ebd., S. 123
8 https://www.dasverborgenemuseum.de/ausstellungen/ausstellung/yva