Ob und wie diese beiden Hirn-Netzwerke auch auf Substanzen reagieren, haben Paulun und ihre Kollegen nun untersucht. Für ihr Experiment erstellten sie zunächst 100 kurze Videoclips, in denen harte oder elastische Bälle, Flüssigkeiten oder Pulver in verschiedenen Aktionen zu sehen waren: Sie stürzten eine Treppe hinunter, fielen zu Boden oder wurden in einer durchsichtigen Box hin und her geschaukelt. Die Testpersonen sahen diese Videoclips oder Screenshots davon, während ihre Hirnaktivität mittels funktionaler Magnetresonanz-Tomografie (fMRT) aufgezeichnet wurde.
Getrennte Verarbeitung
Die Analysen enthüllten: Insgesamt betrachtet reagieren die beiden Hirn-Netzwerke LOC und FPN sowohl auf Objekte wie auf Substanzen. Demnach verarbeitet der laterale Okzipitalkomplex nicht nur die 3D-Form fester Gegenstände, sondern auch die Formveränderungen flüssiger oder körniger Substanzen. Das Frontoparietal-Netzwerk wiederum bewertet bei beiden Kategorien die physikalischen Merkmale.
Das Besondere jedoch: Diese Verarbeitung geschieht in jeweils eigenen Unter-Arealen der beiden Netzwerke. „Beide Signalwege haben eine Zweiteilung: Ein Unterbereich reagiert stärker auf Objekte, der andere stärker auf Substanzen“, berichtet Paulun. „Das haben wir vorher noch nie bemerkt, weil niemand dies untersucht hat.“ Das Gehirn scheint demnach eine Art Arbeitsteilung zu nutzen, wenn es um das Erkennen und Bewerten von Objekten oder aber Substanzen geht.
Unser Gehirn verarbeitet Objekte und Substanzen unterschiedlich.© MIT/ McGovern Institute
Ähnlich wie ein 3D-Grafikprogramm
Das könnte bedeuten, dass unser Gehirn für beide Kategorien verschiedene mentale „Algorithmen“ einsetzt. Seine visuelle Verarbeitung würde dann der von Computerprogrammen ähneln, die grafische 3D-Objekte für Computerspiele generieren: „In solchen Grafik-Programmen werden Objekte meist durch Gitternetzwerke repräsentiert, Flüssigkeiten hingegen als Partikelströme“, erklären Paulun und ihre Kollegen.
Auf ähnliche Weise könnte auch unser Gehirn zwei grundsätzlich unterschiedliche Strategien nutzen: Sobald das primäre Sehzentrum erste Hinweise auf eine der beiden Kategorien hat, leitet es die Signale auf den einen oder andere Verarbeitungsweg. Diese Zweiteilung könnte dabei helfen, wichtige Unterschiede im Verhalten von Objekten versus Substanzen effizient zu verstehen und unsere Interaktionen mit ihnen zu planen.
Gleichzeitig könnte dies auch erklären, warum schon Säuglinge instinktiv den Unterschied zwischen Objekten und Substanzen verstehen: Selbst ihr Gehirn ist schon auf diese Zweiteilung hin ausgelegt. (Current Biology, 2025; doi: 10.1016/j.cub.2025.07.027)
Quelle: Massachusetts Institute of Technology
4. August 2025
– Nadja Podbregar