Über einem Meer von Köpfen, Hüten, Schirmen und Transparenten erhebt sich eine Kulisse wie ein Mahnmal: leere Fensterhöhlen, die Wände halb eingefallen. Das Neue Schloss in der Mitte Stuttgarts ist in jener Zeit noch ein altes, eine Ruine der Vergangenheit, Fassade einer fernen, schöneren Geschichte. „Heimat“ ist auf einem der Transparente zu lesen. In den Ruinen des zerbombten Stuttgart suchen die vielen, die sich hier versammelt haben, eine neue Heimat.
Es ist der 6. August 1950, fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Stuttgart hat sich davon noch keineswegs erholt. 4,9 Millionen Kubikmeter Schutt haben die Nazis hinterlassen. Von den 80 000 im Krieg zerstörten Wohnungen sind viele nur notdürftig wiederhergestellt, viele komplett abgerissen. Ruiniert (und noch lange nicht renoviert) ist auch das Neue Schloss – und die Vergangenheit der vielen, die sich an jenem Sonntag vor dem Gerippe seiner Fassade versammeln. 70 000 bis 100 000 sind es.
Sie kamen mit Sonderzügen, manche auch mit Pferdefuhrwerken: allesamt haben sie ihre alte Heimat eingebüßt. Die Trauer und der Schmerz über diesen Verlust sind noch nicht vergessen. Dennoch sind sie gekommen, um eine Art Schlussstrich zu ziehen und den Blick nach vorne zu wenden – auch wenn sie Phantomschmerzen plagen.
12 bis 14 Millionen Deutsche wurden in den letzten Kriegsmonaten und den Jahren danach aus ihren Herkunftsregionen vertrieben. Zwei Millionen sind dabei umgekommen. Die meisten Überlebenden haben nur mit Mühe, viele noch gar nicht wieder Fuß gefasst. Ihre neuen Nachbarn behandeln sie oft als Fremde. Sie werden nicht überall mit offenen Armen empfangen. Jeder sechste Einwohner Westdeutschlands ist in jener Zeit ein Heimatvertriebener.
1949 haben die sich zu einem Zentralverband vertriebener Deutscher zusammengeschlossen. Gerade im Südwesten der neuen Bundesrepublik „entstand innerhalb weniger Monate ein dichtes Organisationsnetz“, so der Historiker Christopher Dowe vom Stuttgarter Haus der Geschichte. An jenem Augustwochenende versammeln sich die Vertriebenen in Stuttgart, um eine „Magna Charta“ ihrer Anliegen zu formulieren, wie der Publizist Axel de Vries es formuliert hat, Mitbegründer der deutsch-baltischen Landsmannschaft in Württemberg.
Adenauer ließ sich entschuldigen
Aus der „Magna Charta“ wird die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“, beschlossen am 5. August 1950 im Cannstatter Kursaal, unterzeichnet in der Villa Reitzenstein, verkündet am Tag danach auf dem Stuttgarter Schlossplatz. Das Datum ist bewusst gewählt: Fünf Jahre zuvor hatten die Alliierten das Potsdamer Protokoll verabschiedet, das „die Vertreibungen quasi legalisiert“ habe, wie der Würzburger Historiker Matthias Stickler anmerkt.
Die Inszenierung in Stuttgart, so dessen Göttinger Kollege Jörg Hackmann, „sollte die Erklärung als gleichsam offiziösen Staatsakt präsentieren“. Bundeskanzler Konrad Adenauer reist deswegen aber nicht extra nach Stuttgart – er schickt seinen Vizekanzler Franz Blücher. Bei der Stuttgarter Charta handelt sich um ein schmales Papier, das drei Grundsätze und vier Forderungen umfasst. Unterzeichnet haben 30 Vertreter verschiedener Verbände und Landsmannschaften, unter ihnen auch de Vries – und der eine oder andere ehemalige SS-Offizier.
Die „Charta“ postuliert erstmals ein „Recht auf Heimat“ und reklamiert dafür göttlichen Segen. Es heißt dort: „Wir haben unsere Heimat verloren. Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde. Gott hat die Menschen in ihre Heimat hineingestellt. Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen, bedeutet, ihn im Geiste töten.“ Ein Heimatrecht wird weder in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen noch im deutschen Grundgesetz erwähnt, die kurz zuvor verfasst worden waren. Die Architekten der bundesrepublikanischen Verfassung hätten ein solches Recht sogar dezidiert abgelehnt, betont der Historiker Hackmann.
Die Heimatvertriebenen erklären darüber hinaus „ernst und heilig“ den Verzicht auf „Rache und Vergeltung“ – damals für viele überraschend und bei manchen umstritten. Ein Teil der Landsmannschaften protestiert gegen diese Selbstverpflichtung, die den Radikaleren im eigenen Milieu Mäßigung auferlegt. Zu den Ansprüchen, welche die Charta bekundet, zählt das Verlangen, „gleiches Recht als Staatsbürger“ zu genießen wie die Alteingesessenen. Zudem fordern die Vertriebenen eine „gerechte und sinnvolle Verteilung der Lasten des letzten Krieges“ – ein brisanter Punkt, da zeitgleich über ein Lastenausgleichsgesetz verhandelt wird, das ab 1952 regeln sollte, wie Vermögensverluste und andere Nachteile infolge des Kriegs entschädigt werden. Vertriebene konkurrieren da mit jüdischen Opfern, Kriegerwitwen und -waisen.
„In Polen praktisch nicht wahrgenommen“
Den beiden Stuttgarter Tageszeitungen ist die Charta ein Aufmacher auf den Titelseiten wert. Kommentiert wird das Ereignis aber nicht. Insgesamt sei „die erzielte Medienresonanz für die Vertriebenenvertreter enttäuschend“ gewesen, urteilt der Historiker Dowe. Ihr Anspruch, „ein Zeichen an die Weltöffentlichkeit zu setzen“, wie es im Text der Charta heißt, sei gescheitert. Jörg Hackmann vermerkt, dass die Deklaration „in Polen praktisch nicht wahrgenommen“ werde. Die Wirkung der Charta, schreibt er, „war von Beginn an geringer, als von den Initiatoren erwartet“. Für Stickler ist die Charta hingegen „ein nicht zu unterschätzender Prestige-Erfolg“.
„Historisches Signal des Neubeginns“
Bernd Fabritius, Präsident des 1957 gegründeten Bundes der Vertriebenen, wertet das programmatische Papier aus heutiger Sicht als „ein historisches Signal des Neubeginns“. Der ausdrücklich deklarierte Verzicht auf Rache und Vergeltung sei für die Zeitgenossen „keineswegs selbstverständlich“ gewesen. Fabritius deutet die Charta als „klares Bekenntnis zu Frieden, zu einem vereinten Europa und zum Wiederaufbau Deutschlands“. Wertschätzung brachte auch der Christdemokrat Wolfgang Schäuble der Charta entgegen. Als er noch Bundesinnenminister war, nannte er die Erklärung bei einem Treffen von Russlanddeutschen zum 65. Jahrestag ihrer Vertreibung „ein beeindruckendes Zeugnis menschlicher Größe und Lernfähigkeit“. Schäuble betonte: „Nicht Revanchismus, nicht Niedergeschlagenheit bestimmen diese Charta, sondern der Glaube an die Zukunft, Europäertum, christliche Humanität.“
Nicht alle haben die Charta der deutschen Heimatvertriebenen so wohlwollend interpretiert. Der jüdische Publizist Ralph Giordano (1923 bis 2014) hatte in seinem Buch „Ostpreußen ade“ bemängelt, dass die Vorgeschichte der Vertreibung ausgeblendet werde, vom Nationalsozialismus keine Rede sei und als Opfer allein die Vertriebenen genannt würden. Sein Kollege Micha Brumlik befand gar, dass in der Charta „Verleugnung und Verdrängung des Nationalsozialismus in geradezu idealtypischer Weise zum Ausdruck kommen“.
Die Vertriebenen hätten mit ihrer Stuttgarter Charta „einem nationalistisch verengten Opferdiskurs Vorschub geleistet“, schreibt der Historiker Jörg Hackmann. Auch dessen Kollege Stickler spricht von einer „geradezu autistischen Sicht der Dinge“. Allerdings sei das „Selbstbild, schuldlos Opfer geworden zu sein, keineswegs eine Besonderheit der Vertriebenen“ gewesen.
„Eine Art Grundgesetz“
Der erklärte „Verzicht“ auf Rache und Vergeltung sei fast schon eine Provokation, da man nur auf etwas verzichten könnte, das einem rechtens zustehe. Insofern unterstelle die Charta gar einen grundsätzlichen Anspruch auf Rache und Vergeltung. Brumlik bemängelt zudem, dass etwa ein Drittel der Erstunterzeichner überzeugte Nationalsozialisten gewesen seien. Für ihn handelt es sich um „eine im Geist von Selbstmitleid und Geschichtsklitterung getragene völkisch-politische Gründungsurkunde“.
Zu völlig anderen Schlüssen kommt naturgemäß Vertriebenen-Präsident Fabritius, der die strittigen Formulierungen in ihrer Entstehungszeit verortet sieht. Aus seiner Sicht war die Stuttgarter Charta „für die junge Bundesrepublik ein stabilisierendes Element“. Für die Vertriebenen sei sie „über die Jahre zu einer Art ,Grundgesetz’ geworden“. Sie erinnere zudem daran, „dass selbst unter schwierigsten Umständen Verständigung möglich ist“.