Silvester in Berlin gebucht? Für einige Touristen wohl ein Schuss in den Ofen. Die Absage der großen Silvesterparty hat sich lange angekündigt. Umso erstaunlicher, dass es keinen Plan B gibt. Immerhin: Der Böllertourismus bleibt verschont. Ein Kommentar von Oliver Noffke
Silvester ist mit Abstand die unangenehmste Zeit, um sich in Berlin aufzuhalten. Das Wetter ist im besten Fall ein Mix aus Nieselnebel, Eiswind und aufgewirbeltem, feuchtem Dreck. Busse und Bahnen fahren nicht nach Plan, sondern auf gut Glück. Im Uber dauert es doppelt so lange wie sonst, dafür kostet es viermal so viel. Wer zu Fuß unterwegs ist, begibt sich auf einen Slalomlauf um süßlich müffelnde Pfützen. Vor den Clubs sind die Schlangen zäh, innen die Preise märchenhaft.
Der Tiefpunkt wird Mitternacht erreicht, wenn die seit Tagen anhaltende Explosionsserie zum Crescendo feuert. Zerfetzte Gliedmaßen, zerrissene Trommelfälle, verbrannte Gesichter – das medizinische Personal in den Notaufnahmen erlebt an Silvester Verletzungen, wie sie eigentlich in Kriegsgebieten zu erwarten sind. Diese Kombination aus überschwänglicher Freude, Rausch und Böllern ist prädestiniert für Entscheidungen, bei denen ich gern abwesend bin.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Nichts, was mich persönlich an Silvester stört, ist wirklich berlinspezifisch. So wird halt in Deutschland das neue Jahr begrüßt.
Veranstalter sagt Silvesterparty am Brandenburger Tor endgültig ab
Zu Silvester wird es aller Voraussicht nach keine Party vor dem Brandenburger Tor geben. Der bisherige Veranstalter hat die Sause am Mittwoch abgesagt. Zuvor hatte der Regierende Bürgermeister eine erneute Bezuschussung ausgeschlossen.mehr
Keine Mega-Fete, keine Live-Übertragung und wohl auch kein Feuerwerk
Auch in Hamburg, München, Köln und überall dazwischen sprengen sich Menschen am 31. Dezember die Hände zum Stumpf. Selbst in der Prignitz sind dann die Preise beim Feiern deutlich höher. Und das Wetter ist anderswo auch schlimm. Dass es in Berlin besonders dicke kommt, liegt vor allem daran, dass die Hauptstadt mit Abstand auch die größte Metropole im Land ist.
Was Silvester hier tatsächlich von anderen deutschen Städten unterscheidet, ist, dass zum Krawalligen eine echte Alternative geboten wird: die Silvesterparty auf der Straße des 17. Juni. Draußen und trotzdem geschützt vor der Böllerei, groß wie ein Festival, dennoch familientauglich und mit bestem Blick auf das Höhenfeuerwerk um Mitternacht.
In diesem Jahr soll damit Schluss sein. Keine Mega-Fete, keine Live-Übertragung im Fernsehen und offenbar auch kein Feuerwerk. Selbst als standfester Silvestermuffel ist das für mich eine absurde Vorstellung.
Ohne Zuschüsse von der Stadt sei die Party nicht zu stemmen, so der Veranstalter. „Wir werden diese Veranstaltung nicht dauerhaft mit Steuergeld finanzieren“, sagt hingegen der Regierende Bürgermeister Kai Wegner. Dass es zu diesem Bruch kommen würde, hat sich lange angekündigt. Bereits vor zwei Jahren hatte Wegner seine Position dem Veranstalter mitgeteilt.
Spranger fordert Absage von Silvesterparty zu überdenken – aus Sicherheitsgründen
Fällt die Party am Brandenburger Tor flach, haben Berliner Polizei und Feuerwehr an Silvester deutlich mehr zu tun, befürchtet Innensenatorin Spranger. Sollte es so kommen, seien deutlich mehr Verbotszonen für Pyrotechnik in der Stadt notwendig.mehr
Der winzige Reigen der internationalen Silvesterdestinationen
Umso unverständlicher ist, dass Wegner offensichtlich keinen Plan B hat. „Wir führen jetzt Gespräche“, sagte er am Donnerstag. Wer schon einmal eine größere Neujahrsfete geplant hat oder zum Jahreswechsel verreisen wollte, weiß, im August Optionen für Silvester auszuloten, ist geradezu aggressiv optimistisch. Wie soll das im Weltstadtformat gelingen? Wegners Plan klingt so, als fällt jetzt eben entweder für Zehntausende der Spaß flach – oder es wird für die Finanzverwaltung richtig teuer. Ist eben so.
Bemerkenswert ist insbesondere, dass der Regierende Bürgermeister den Eindruck erweckt, die Stadt hätte in den vergangenen Jahren Steuergelder für Partys verschleudert. Hunderttausende Hotelübernachtungen, Besuche in Restaurants, Clubs, Theater, Museen oder Sehenswürdigkeiten – sowie unzählige Bescheide für vergessenes C-Zusatzticket von und zum BER. Das ist, was Berlin bekommt, wenn an Silvester das Angebot stimmt. Es gibt kaum eine zweite Großveranstaltung, die derart eindeutig und gezielt als indirekte Wirtschaftsförderung wirkt – inklusive eingebauter Imagekampagne.
Die Bilder vom Feuerwerk über der Quadriga und den fröhlichen Massen vor der Bühne gehen um die Welt. Sie sind mittlerweile gar das notwendige Gegengewicht zu Aufnahmen von brennenden Fahrzeugen, explodierenden Kinderzimmern und Polizeihundertschaften, die in Formation durch Menschengruppen pflügen.
Nur wenige Städte auf der Welt haben sich als begehrte Silvesterdestinationen etabliert. Sydney, Hongkong, Dubai, New York, Paris. Mehr als Spektakel verbinden viele von ihnen nicht mit dem neuen Jahr. Berlin kann darüberhinaus auch eine sehr emotionale Silvestergeschichte erzählen, die viele Menschen nach wie vor berührt.
42 Silvester-Verletzte im Unfallkrankenhaus – Berliner Polizei meldet 400 Festnahmen
Die Zahl der Patienten, die mit Böller-Verletzungen im Unfallkrankenhaus Berlin behandelt werden, ist auf 42 gestiegen. In der Silvesternacht wurden zudem Häuser durch Pyrotechnik beschädigt. Es gab Hunderte Festnahmen.mehr
Nicht mal DJ Bobo kommt
Wir mögen heute vor allem Schmunzeln, wenn wir Bilder vom Silvesterabend 1989 sehen. Oder Geschichten hören von denen, die dabei waren als ein US-Fernsehsternchen mit dichtem Lockenschopf, noch dichterem Brusthaar und blinkendem Klaviertastenschal auf einem Kran sang.
Es war aber vor allem ein Abend, an dem sich Einzelne spontan in Massen zusammenfanden. Direkt am Brandenburger Tor. Dort, wo keine acht Wochen zuvor noch Stacheldraht gespannt war und 40 Jahre lang ein Riss durch Europa ging. David Hasselhoff hatte seinen Hit über die Suche nach Freiheit mitgebracht. Die Berliner hatten sich ihre zu diesem Zeitpunkt längst gegriffen und freuten sich nun auf der Mauer darüber. Berlin, Freiheit, Silvester – marketingmäßig ein Lottogewinn.
Mit Sicherheit gibt es einiges zu kritisieren an der Art, wie sich die Silvesterparty seither entwickelt hat. Kann eine Stadt, die sich selbst gern als coolste Europas beschreibt, wirklich nicht mehr bieten, als den Musikgeschmack des kleinsten gemeinsamen Nenners? Ein Line-up aus verblassten One-Hit-Wondern und zuletzt in guten Jahren mit DJ Bobo als Headliner?
Jahrzehntelang wurde die Silvesterparty genutzt, um Berlin als fröhliche Stadt der Freiheit zu inszenieren und schamlos mit Superlativen zu klotzen: Hunderttausende Besucher, bestimmt noch mehr; die größte Party Europas. Vielleicht war die Sause niemals annähernd so groß. Im vergangenen Jahr kamen 60.000. Weil Eintritt verlangt wurde, gab es erstmals eine konkrete Zahl. Zehntausende von ihnen kamen aus anderen Ecken der Republik und Welt. Sie machen nur einen Teil der Touristen aus, die Silvester nach Berlin kommen. Aber keinen unerheblichen.
Da ist es kaum verwunderlich, dass Vertreter von Hotel- und Gastgewerbe direkt ihre Unzufriedenheit zeigten. Eher verblüfft, dass die Wirtschaftssenatorin das nicht macht. Wie es um Silvester in Berlin steht, zeigt hingegen die Reaktion von Innensenatorin Iris Spranger. Ohne die große Silvesterparty stünde Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten ein noch anstrengenderer Jahreswechsel bevor, so die SPD-Politikerin.
Den Regierenden Bürgermeister mag es grämen, dass Menschen aus aller Welt in Berlin subventioniert Silvester feiern. Zwei Jahren lang tat es das wohl schon. Genug Zeit, um der Stadt und ihren Besuchern:innen ein besseres Angebot zu machen. Stattdessen zeigt die Google-Suche für Berlin+Silvester nun: abgesagt! Einen größeren Bären hätte ein Politiker – zumal aus der wirtschaftsnahen CDU – der Berliner Tourismuswirtschaft kaum aufbinden können.
Mir persönlich ist es, ehrlich gesagt, schnurzpiepe. Ein Klosteraufenthalt auf der Wetterseite der Karpaten im Schneesturm und bei Stromausfall wäre mir lieber als jede Silvesterfeier. Nur bin ich mittlerweile echt spät dran mit der Buchung.