Zum zwölften Mal seit 2006 bespielt die schier unerschöpfliche Sammlung Grässlin diverse Plätze ihres Heimatorts St. Georgen auf 860 Meter Höhe im Schwarzwald, einst ein Zentrum feinmechanischer Industrie. Auch die elterliche Firma der drei Schwestern Bärbel, Sabine und Karola Grässlin gehörte dazu; schon Dieter und Anna Grässlin sammelten Kunst ihrer Zeitgenossen. Heute leitet Bärbel Grässlin eine führende, international agierende Galerie in Frankfurt. Karola Grässlin, verheiratete Kraus, ist Direktorin des MUMOK in Wien. Sabine Grässlin kümmert sich um den „Kunstraum Grässlin“ in St. Georgen. Der elegant nüchterne Bau für wechselnde Ausstellungen wird von der Stiftung Grässlin unterhalten und finanziert.
„Wie zusammen leben?“
Die gerade eröffnete Dauerschau, die bis März 2027 bleibt, hat ihren Titel „Im Land der Motive brennt kein Licht mehr“ von einem großen Digitaldruck Albert Oehlens. Gezeigt werden Werke der Achtziger- und Neunzigerjahre, vor allem aus Deutschland. „Wie zusammen leben?“, lautet die leitende Frage, die von den Grässlins zusammengestellten Arbeiten können und wollen keine billigen Antworten geben. Eher illustrieren sie die von Disruption und Krisenhaftigkeit gezeichnete Gegenwart.
Werner Büttner, „Drei Versuche über Nürnberg (Sauckel, Streicher, Kaltenbrunner)“,1986, und „1. Versuch über den 8. Mai 1945“, 1986Sammlung Grässlin / VG Bildkunst, Bonn 2025
Die Namen der Künstler – nur eine Künstlerin ist dabei – sind bekannte: Cosima von Bonin, Werner Büttner, Günther Förg, Georg Herold, Martin Kippenberger, Reinhard Mucha, Albert Oehlen und Markus Oehlen. Sie sind Angehörige der ersten Nachkriegsgeneration und arbeiten weiterhin erfolgreich. Günther Förg und Martin Kippenberger sind früh verstorben. Sie hatten die Dominanz der Konkreten Kunst und der Minimal Art satt, übrigens auch die bunte Heftigkeit der Neuen Wilden. Das „bad painting“ (eher Erbe des späten Picasso) allerdings konnten einige gut brauchen. Sie hielten dagegen mit provokanten Bildern, Skulpturen und Installationen.
Inzwischen allesamt museumsreif, zeigt die Zusammenschau noch einmal ihre ganze Aggressivität und Unbotmäßigkeit, noch vor der hohen Zeit von „political correctness“ und „cancel culture“. Gut vier Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs saß ihnen die Väter- und Müttergeneration noch im Nacken. Der Nationalsozialismus wird offen oder unterschwellig behandelt: Mit ihm verbundene Symbole erscheinen, Krieg und Nachkrieg sind Themen. Darf Kunst politisch sein? Das war für diese Kohorte ein theoretisches Problem, das sie, für heutige Maßstäbe mitunter grenzwertig, mit ihren Werken kommentierten.
„Hardliner“ aus der Sammlung
In ihrer Einführung zu einem ersten Rundgang sagte Karola Grässlin, zu sehen seien vor allem die „Hardliner“ der Achtziger aus der Sammlung, die in dieser Zeit ihren Ursprung hat. Damals seien „Tabuthemen“ angefasst worden, die in die Gegenwart ragten, fügt sie hinzu, Aber bitte bloß keine Angst vor böser Kunst! Darauf spielt Kippenberger an mit Gemälden aus der Serie „Zuerst nicht gekaufte Bilder (Krieg böse)“. Auf einem davon uriniert ein Mann in T-Shirt und Jeans, der klassischen Uniform der Nonkonformisten, gegen die Laufrollen eines Panzers, der in einer wüsten, in Pop-Farben kolorierten Landschaft mit Bergen im Hintergrund steht. Das Gemälde hängt in einem einstigen Fabrikgebäude in der Bahnhofstraße.
Dort besetzt die Halle Reinhard Muchas Großinstallation „Der Bau“, deren Kern Anfang der Achtziger entstand. Nicht zufällig erinnert der Titel an Franz Kafkas beklemmende Erzählung, übertragen in eine Gegenwart, die von der Tristesse industrieller Versatzstücke geprägt ist. Das von Neonröhren beleuchtete Bahnhofsschild „Remscheid“ wirkt wie ein Spott auf Urbanität und Mobilität. In der alten Fabrik sind außerdem provozierende Arbeiten von Kai Althoff, Mike Kelley, Manuel Ocampo und Chéri Samba platziert.
Reinhard Mucha „Der Bau“, 1980/1984Sammlung Grässlin / VG Bildkunst, Bonn 2025
Im Entree des Kunstraums hängt Günther Förgs großformatige Farbfotografie des „EUR Palazzo della Civiltà“ in Rom und demonstriert das ambivalente Fluidum faschistischer Architektur. Die zentrale Position hat Cosima von Bonins „Missy Misdemeanour #2“ aus dem Jahr 2011: Die neun Meter lange PVC-Rakete, auf der ein groteskes verwundetes Plüsch-Riesenküken reitet, treibt die ironischen Kommentare der Achtzigerjahrekünstler bis zur Absurdität. So auch Kippenbergers zynische Bilderfolge „Was ist denn bloß am Sonntag los?“ von 1982, auf der er Beschäftigungsvorschläge macht. Das Update liefern jetzt die sozialen Medien.
Russische Soldaten am Meer
Nebenan stellt Georg Herold in einer Assemblage aus Ziegelsteinen und Holzlatten auf Leinwand „Russische Marmelade“ (Kaviar) vor oder feiert vor dunklem Grund grellgelb „40 Jahre Magermilch“. Auch das erweiterte Elternhaus kann besichtigt werden. Im stilvollen Interieur zieht zum Beispiel Albert Oehlens „Selbstportrait mit Totenschädel“ die Blicke auf sich, eine wütende Adaption des klassischen Sujets, neben Werner Büttners „Badenden Russen“, Kampfstiefel und abgelegte Uniformen am Meeresrand. Doch, russische Soldaten suchen durchaus das Meer, nicht nur zum Baden.
Bärbel Grässlin sagt es deutlich: „Die Genese unserer Sammlung – nur Männer.“ Jedenfalls hat man es in dieser Präsentation (auch) mit Männerbündischem zu tun: die Brüder Oehlen, Kippenberger und Förg waren bestimmt so eine Gruppe. Wie auch anders? Wahr ist genauso: Damit wird der (nicht nur) bundesrepublikanischen gesellschaftlichen Wirklichkeit bis (mindestens) 1989 ihr Spiegel vorgehalten. Wer den Weg nach St. Georgen findet, wird belohnt – mit nicht wenig Erkenntnis, wie sie nur Kunst leisten kann.
„Im Land der Motive brennt kein Licht mehr“ Kunstraum Grässlin, St. Georgen, bis zum 31. März 2027. Geführte Rundgänge (Preis 15 Euro pro Person) nach Vereinbarung unter 07724/9161805 oder info@sammlung-graesslin.eu. Das Begleitheft zur Ausstellung kostet fünf Euro.