Den Deutschen ist der Sonntag also so heilig, dass Geschäfte geschlossen bleiben, aber offenbar nicht heilig genug, um in die Kirche zu gehen. Melsa Achitsa findet das irritierend. „Will euer Gott nicht, dass man am Sonntag einkaufen geht? Gai!“, sagt sie und seufzt. Letzterer Ausdruck ist Suaheli und bedeutet so viel wie „Oh Gott!“

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Die junge Frau, 18, lernt gerade, was das Leben in ihrer Heimat Kenia vom Leben in ihrer künftigen Wahlheimat Deutschland unterscheidet – wie die Sache mit den Sonntagen. In Kenia sind die Kirchen am Sonntagmorgen voll, die Straßen leer. Zwei, drei, manchmal vier Stunden geht der Gottesdienst. Es wird geklatscht, getanzt, gesungen, Dorftratsch ausgetauscht. Ist alles vorbei, öffnen die Shops am Straßenrand, dann werden T-Shirts, Gemüse, Ladekabel oder Hundewelpen verkauft. Die Supermärkte in der Hauptstadt Nairobi haben ohnehin oft 24/7 geöffnet.

Die Angst vor dem Winter und dem deutschen Essen

„Ich habe gelernt, dass es nicht so einfach ist, mit Deutschen sozialen Kontakt aufzubauen. Seid ihr Deutschen freundlich?“, fragt Melsa Achitsa. Es klingt ein wenig neckisch, die 18-Jährige lacht dabei. Im vergangenen Jahr hat sie das kenianische Abitur gemacht und danach Deutsch gelernt. Jeden Tag mehrere Stunden. Nebenbei absolvierte sie Kurse zur Landeskunde, Arbeitsleben und Alltag sowie ein interkulturelles Training. Melsa Achitsa will nach Deutschland, um eine Ausbildung zu machen.

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Melsa Achitsa, 18, will in Deutschland eine Ausbildung zur Krankenschwester machen. 
Nairobi, Kenia, Goethe-Institut

Melsa Achitsa, 18, will in Deutschland eine Ausbildung zur Krankenschwester machen.
Nairobi, Kenia, Goethe-Institut

Eine richtige Vorstellung von dem Land, in dem sie leben und arbeiten will, hat sie bisher nicht. Wie auch? Sie ist jung, hat Kenia nie verlassen. Immerhin: Freundinnen in Deutschland schicken manchmal Fotos.

Bekommt man wirklich Ärger, wenn man einen Polizisten mit Du anspricht?

Melsa Achitsa möchte in Deutschland arbeiten

Die Kenianerin bereitet sich vor: Sie liest Bücher, schaut Filme, folgt Social Media, besucht die Kurse. Manches kommt ihr dabei komisch vor. „Esst ihr wirklich Brot zum Abendessen? Ihr haltet nicht einfach einen Bus an und steigt ein, sondern habt Haltestellen?“, fragt sie auf Englisch. Einzelne Wörter wie Haltestelle und Brot nennt sie auf Deutsch. „Das Wetter, Gai, der Winter! Das wird der schwierige Part, das wird mich killen. Bekommt man wirklich Ärger, wenn man einen Polizisten mit Du anspricht?“ Melsa Achitsa hat eine ganze Menge Fragen.

Kenia hat Hunderttausende arbeitslose Jugendliche, Deutschland offene Stellen

Sie ist eine von vielen Jugendlichen, die für sich keine Zukunft in Kenia sehen. Eine von jenen, die seit Monaten auf den Straßen demonstrieren, gegen Polizeigewalt und Korruption, für Demokratie und bessere Perspektiven. Die Arbeitslosigkeit unter Schulabgängern im Land ist enorm hoch. Die Weltbank spricht von einer Quote von 12 Prozent, das Medienhaus „Pulse Kenia“ gar von 67 Prozent. Eine Million junger Menschen drängt demnach jedes Jahr auf den Jobmarkt. Sie sind gut ausgebildet – und müssen doch häufig, wenn überhaupt, im informellen Sektor zu schlechten Bedingungen arbeiten, weil es schlicht nicht genug Stellen gibt.

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Death of social media influencer sparks protests in Kenya NAIROBI, KENYA  JUNE 17: Protesters clash with security forces during a demonstration in Nairobi, Kenya, on June 17, 2025, following the death of blogger Albert Ojwang while in police custody. Demonstrators demanded justice and accountability, chanting slogans and denouncing police brutality. Security forces responded with tear gas to disperse the crowd. Gerald Anderson / Anadolu Nairobi Kenya. Editorial use only. Please get in touch for any other usage. PUBLICATIONxNOTxINxTURxUSAxCANxUKxJPNxITAxFRAxAUSxESPxBELxKORxRSAxHKGxNZL Copyright: x2025xAnadoluxGeraldxAndersonxKenias Polizei gegen die Jugend: Die Gewalt eskaliert

Brennende Autos, eingeschlagene Fenster und Polizisten, die sich trotz Verbot maskieren und Protestierende niederknüppeln. Bei Demonstrationen gegen Willkür, Korruption und Perspektivlosigkeit kommt es zu Ausschreitungen und einer rigoros vorgehenden Polizei. Kenia steht am Scheideweg.

Ganz anders in Deutschland. 2024 konnten laut Bundesagentur für Arbeit knapp 694.000 Stellen nicht besetzt werden, Tendenz steigend. Die deutsche Bevölkerung wird immer älter, es werden nicht genug Kinder geboren. Eine ältere Bevölkerung bedeutet mehr Pflegebedarf bei weniger Arbeitskraft. Deutschland braucht Hilfe aus dem Ausland – und verhandelt deshalb mit anderen Staaten. Im September 2024 unterzeichneten Kenia und Deutschland ein Migrationsabkommen. Ein solches gibt es bereits mit Indien und Georgien, mit Kolumbien und Marokko.

Die Bundesrepublik profitiert dabei: Eine unbegrenzte Anzahl junger Kenianerinnen und Kenianer mit Ausbildungs- oder Arbeitsverträgen kommt nach Deutschland. Und im Gegenzug nimmt Kenia Ausreisepflichtige zurück, die sich illegal in der Bundesrepublik aufhalten. Zynisch könnte man von einem Tausch „gewünschte gegen unerwünschte Ausländer“ sprechen.

Vorbereitungskurse lehren über ÖPNV, Sozialleben, Kirchensteuer

„Was passiert, wenn ich in der Probezeit schwanger werde?“, tippt eine junge Frau in den Chat. 162 Menschen besuchen den Online-Workshop „Living and Working in Germany“, Leben und Arbeiten in Deutschland, den das Goethe-Institut (GI) in Nairobi anbietet. Es gibt mehrere dieser Veranstaltungen, jede mit einem anderen Schwerpunkt. Es geht um Fahrpläne, um Pünktlichkeit und das Schulsystem, darum, wie das Sozialleben organisiert ist. Bundesregierung und EU fördern diese Veranstaltungen, genau wie Sprechstunden in Kenia und Integrationskurse und „Welcome Coaches“ in Deutschland.

Der Arbeitsmarkt ist global, und Kenianer wollen ein Teil davon sein.

Elizabeth Mairura,

Goethe-Institut Nairobi

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An einem Vormittag Ende Mai steht das Arbeitsleben im Fokus. Die Teilnehmenden hören von befristeten und unbefristeten Verträgen, von der Beitragsbemessungsgrenze und der Kirchensteuer, von Minijobs, Teilzeitjobs und Aushilfsjobs. Diskutiert werden Fragen wie: Stadt oder Land, wo ist es einfacher, einen Job zu finden? Die Kursleiter animieren, auch auf dem Dorf nach Jobs zu suchen, sich nicht nur in Bundesländern mit den meisten Feiertagen zu bewerben. Aber: Es ist auf dem Land vieles schwieriger als in einer größeren Stadt – etwa Friseursalons zu finden, die mit Afro umgehen können, oder Läden, in denen es Zutaten für Ugali (Maisbrei) und Chapati (frittierte Fladen) gibt.

Das Geschäft mit den Träumen

Einige der 162 jungen Leute in der Onlinekonferenz sprechen Deutsch, wissen über Aufenthaltstitel Bescheid, konsumieren deutsche Nachrichten. Andere haben nur eine vage Vorstellung. „Wir wollen ein realistisches Bild vermitteln“, sagt Elizabeth Mairura, Projektkoordinatorin von „Living and Working in Germany for Kenya, Uganda, Rwanda and Burundi“ beim GI, das zwar nicht vermitteln darf, aber die Vorbereitung im Heimatland übernimmt. „Viele Agenturen in Kenia sprechen nur über die Chancen, aber wir wollen auch die Herausforderungen ansprechen.“

Elizabeth Mairura bereitet junge Kenianerinnen und Kenianer auf ihr Leben in Deutschland vor.

Elizabeth Mairura bereitet junge Kenianerinnen und Kenianer auf ihr Leben in Deutschland vor.

Agenturen, die Wohlstand im Ausland versprechen, gibt es reichlich. Träume als Geschäftsmodell. Früher schickten sie Arbeitskräfte nach Katar, Dubai, Saudi-Arabien. Nachdem mehrere Rückkehrerinnen und Rückkehrer über Menschenrechtsverletzungen, Entführungen und Gewalt berichtet hatten, ließ der kenianische Staat Agenturen schließen. Nun sondiert sich der Markt neu. Einige Vermittlungsstellen haben sich auf Deutschland spezialisiert. Unter ihnen gibt es seriöse, aber auch weniger seriöse. Sie bieten das Rundumpaket: Sprachkurs, interkulturelle Trainings, Bewerbungscoachings, Stellensuche, Visaservice. Ein Visum gibt es nur mit einem fairen Ausbildungs- oder Arbeitsvertrag. Aber auch diese sind schnell gefälscht. Der Andrang ist riesig. Es gibt inzwischen monatelange Wartezeiten auf Deutschkurse.

Wer nicht auf Agenturen setzt, versucht es über deutsche Anlaufstellen. Anders als das Goethe-Institut darf die Auslandshandelskammer (AHK) bei der Jobvermittlung helfen. Aktuell betreut das Team 26 in Kenia ausgebildete Krankenpflegerinnen und -pfleger, die ab Frühjahr in Hamburg arbeiten sollen. Auf Wunsch des dortigen Krankenhauses schrieb die AHK die Stellen in Kenia aus, sichtete die Bewerbungen und organisierte Gespräche. Nun bekommen die Kandidatinnen und Kandidaten, einige davon mit Familie, einen Sprachkurs und werden zu den Schulungen des GI geschickt.

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Braindrain? Was massenhafte Abwanderung für Kenias Wirtschaft bedeutet

Was wie ein Verlustgeschäft für Kenia aussieht, ist auf den zweiten Blick keines. Obwohl selbst in Kenia inzwischen gezielt für den deutschen Markt ausgebildet wird und Lehrkräfte von Berufsschulen für ein Praktikum nach Deutschland kommen, profitiert das Land vom Migrations-Deal. Der heimische Jobmarkt wird entlastet, die jungen Leute sind weniger frustriert, mit dem Geld aus dem Ausland werden die Familien daheim versorgt. „Deutschland bekommt nicht alle fehlenden Fachkräfte aus Kenia. Wir versuchen, Braindrain zu umgehen“, sagt Bruno Backes, Leiter des „Labour Mobility Center“-Projekts bei der AHK in Nairobi.

ARCHIV - 08.09.2021, Schleswig-Holstein, Kiel: Ein Zettel mit der Aufschrift "Aushilfe für Küche/Verkauf gesucht" hängt an der Scheibe einer Kieler Konditorei. Trotz guter Buchungszahlen ist die Lage in der Gastronomie in Schleswig-Holstein zu Beginn der Sommerurlaubszeit wegen des Personalmangels spürbar angespannt.(zu dpa: «Zu Ferienbeginn fehlt in vielen Gastronomiebetrieben Personal») Foto: Frank Molter/dpa +++ dpa-Bildfunk +++Wo Fachkräfte fehlen, halten Ausländer den Laden am Laufen

Arbeitskräfte aus aller Welt sorgen hierzulande dafür, dass die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen funktioniert. Und zwar besonders dort, wo große Personalnot herrscht. Eine aktuelle Studie zeigt auch, dass Ausländer in Zukunft für den Arbeitsmarkt immer wichtiger werden.

Der Begriff Braindrain bezeichnet die Abwanderung von hochqualifizierten Fachkräften ins Ausland – mit Fokus auf den Verlust für das Herkunftsland. Backes entgegnet: „In Kenia bekommen jedes Jahr 6000 Krankenschwestern ihr Zertifikat, aber nur zwei Drittel finden einen Job. Wir fokussieren uns auf das andere Drittel.“ Mairura vom GI hält Auswandern für einen berechtigten Wunsch: „Der Arbeitsmarkt ist global, und Kenianer wollen ein Teil davon sein.“ Ohnehin hoffen sie in Kenia alle, dass die Leute irgendwann mit Wissen, Qualifikationen und Wohlstand zurück in ihre Heimat kehren und investieren.

In Kenia ausgebildete Fachkräfte müssen Schulungen machen

Bis zu zwölf Monate und weitere Prüfungen braucht es für die 26 ausgebildeten Pflegekräfte, die die AHK betreut, ehe ihre Abschlüsse in Deutschland anerkannt werden. „Das gilt aber nur für Hamburg. Jedes Bundesland hat da andere Vorgaben“, sagt Backes, und spielt damit auf die vielen Hürden an, die es für Fachkräfte aus dem Ausland gibt. Im GI-Workshop wird beispielsweise auf das Stellenportal der Agentur für Arbeit verwiesen. Mit dem Zusatz: „Das ist leider nur auf Deutsch verfügbar.“

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Wir sehen viele Berufswechsel. Für die jungen Leute geht es um die Frage, ob das Investment in die Zukunft lohnt.

Elizabeth Mairura,

Goethe-Institut Nairobi

Es gibt zwei Arten von Arbeitsmigration. Es gibt die, die ans GI kommen, um Deutsch zu lernen und auf eine Ausbildung in Deutschland hoffen. Oft haben sie schon ein Studium oder eine Ausbildung in Kenia. „Wir sehen viele Berufswechsel. Für die jungen Leute geht es um die Frage, ob das Investment in die Zukunft lohnt“, sagt Mairura.

Und dann gibt es diejenigen wie die 26 Pflegekräfte der AHK. Sie haben die Fachausbildung in ihrem Heimatland gemacht und lernen erst Deutsch, wenn sie einen Arbeitsvertrag haben. Viele Stellenanzeigen erreichen sie aufgrund der Sprachbarriere gar nicht.

Die Angst vor Rassismus und Diskriminierung in Deutschland

In Nairobi soll eine Jobmesse speziell für Kenianerinnen und Kenianer, die nach Deutschland kommen wollen, helfen. Im Oktober wird sie ein zweites Mal stattfinden. Dann sollen auch Menschen auf dem Podium sitzen, die erfolgreich in Deutschland Fuß gefasst haben. Sie sollen über Probleme und Herausforderungen berichten.

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Dazu gehört auch der Umgang mit Ausländerinnen und Ausländern in Deutschland. „Ist es für mich als schwarze Person sicher dort?“, fragt ein junger Mann im GI-Workshop. Auch in Kenia hat sich herumgesprochen, dass derzeit rassistische Narrative die Debatte in Deutschland bestimmen und fremdenfeindliche Übergriffe zugenommen haben. „Im Wahlkampf war es schon sehr schwer für unser Projekt“, sagt Mairura. „Wir wollen keine Angst machen, aber wir müssen die Fakten offenlegen.“