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  1. Seite 1Dieser Txt ist kaputtt
  2. Seite 2Vom rostigen Spielplatz blicken wir nach innen

Professorin Gehring nickt bei dem Gedanken. „Perfektion
kann eine ablehnende Reaktion hervorrufen, wenn man sich zum Beispiel
Hochglanz-Fantasy-KI-Bilder ansieht. Wir empfinden sie als eklig, weil das Makellose hier
seinen fiktionalen Charakter zeigt. Es kann nie echt sein.“ Obwohl etwa
die artifiziell erschaffenen Gesichter sogenannter KI-Influencer immer
schwieriger zu erkennen sind, bleibt man doch weniger aus Bewunderung an ihnen hängen als aus Irritation. Sie fühlen sich falsch an – und das sind die meist
weiblichen, willen- und eigenschaftslosen Avatare ja auch. „Vielleicht
ist das der Defekt der KI“, sagt Gehring. „Sie bringt nur wenige
abstrakte Aspekte zur Geltung, nicht die ganze Fülle der Welt. Neue
Technologien reagieren zwar auf unseren Wunsch nach einer perfekten Umgebung.
Aber wenn wir uns wirklich in einer solchen Umgebung wiederfänden, würde sie
uns wahnsinnig machen. Sie würde uns zu Tode langweilen oder deprimieren.“

Anders als künstliche Intelligenzen, die an einer vermeintlich perfekten Umgebung für unsere Leben arbeiten, lenkt das Kaputte unsere
Aufmerksamkeit nach innen. Beispiel Smartphone: Wenn ich feststelle, dass mein
Handy, das ich erst vor ein oder zwei Jahren gekauft habe, bereits
Verschleißspuren aufweist, der Akku schneller leer ist oder Funktionen sich
verlangsamen, überdenke ich eventuell mein Konsumverhalten. Wie dringend
brauche ich einwandfreie Funktionalität in meinem Leben? Wann habe ich das
letzte Mal etwas in der Preisklasse eines modernen Smartphones angeschafft? Wie
sorglos tue ich das?

Der Autor und Unternehmer Gabriel Yoran beschäftigt sich in seinem dieses Jahr bei Suhrkamp veröffentlichten Buch Die Verkrempelung der Welt ebenfalls mit der Selbstreflexion im Kaputten. Besser und schlechter zugleich seien die Gegenstände unseres Alltags heute, schreibt er, wobei die Verschlechterung ebenso unnötig wie beabsichtigt erscheine. Unsere Konsumbiografien erzählen etwas über uns, glaubt der Autor, vor allem in der heutigen Zeit. Man hat es zu etwas gebracht, wenn man gewisse Dinge besitzt: das erste Auto, die erste eigene Wohnung. Was wir kaufen, bringt für Yoran zum Ausdruck, wer wir sind.

Gleiches kann aber auch für die Dinge gelten, die wir nicht kaufen. Gerade weil sich die Qualität von Alltagsgegenständen wie Smartphones oder Duschköpfen laut Yoran verschlechtert, geht mit ihrem Besitz die Aufforderung einher, sie regelmäßig zu ersetzen oder wenigstens zu reparieren. Diese Verkettung von Kauf und Neukauf zu durchbrechen, bringt ebenfalls zum Ausdruck, wer wir sind.  Nicht mehr das neueste iPhone dient heute als Distinktionsmerkmal, sondern im Gegenteil ein älteres, auffälliges, mit Macken behaftetes Modell. Yoran hat etwas Ähnliches im Podcast Apokalypse & Filterkaffee an einem anderen Beispiel verdeutlicht. Menschen, die Autos als reine Gebrauchsgegenstände betrachteten, hätten laut dem Autor eine genaue Vorstellung davon, wer sie sind. Wenn sie ein altes Auto besitzen, solle dieses zum Ausdruck bringen, dass ihnen Autos egal sind. 

Das Kaputte erzeugt Geschichten

Angewandt auf meine Handysituation könnte das bedeuten: Wenn ich mein pfeifendes, zersplittertes Smartphone seit Monaten nicht repariere oder durch ein neues ersetze, obwohl ich es könnte, will ich damit etwas kommunizieren. Ich bin eine Person, der ihr Handy und alles, wofür es steht (und das ist vieles), nicht so wichtig sind. Das Kaputte geht also tiefer, als ein paar oberflächliche Kratzer und Risse zunächst durchschimmern lassen.

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Wer in der Großstadt wohnt, wird solche Gedanken problemlos auf die eigenen Lebensumstände übertragen können.
Konfrontiert mit dem Kaputten, einem vermüllten Stadtpark, einem Spielplatz,
der vor sich hin rostet oder – noch etwas abstrakter gedacht – der Tatsache, dass
es vielerorts nahezu unmöglich geworden ist, eine bezahlbare Mietwohnung zu
finden, kann sich unser Fokus von oberflächlichen auf strukturelle Probleme
verschieben. Das Kaputte dient dabei wieder als Impulsgeber, es wirft Fragen an mich auf. Welche Konsequenzen ziehe ich aus den Beschädigungen und Unzulänglichkeiten, die ich immer und überall wahrnehme? Welchen Firmen gebe ich mein Geld? Wen wähle ich
zum Beispiel nächstes Mal? Wenn etwas kaputt ist, dann hat es eventuell jemand kaputt gemacht. Wer war das?

Kaputte Fassaden haben den Vorteil, dass man hinter sie blicken kann. Das gilt für eigene
ebenso wie für jene der Außenwelt. Schon der persische Gelehrte und Dichter Rumi
soll im 13. Jahrhundert gesagt haben: Durch den Riss dringt das Licht ein.
„Ja, das kann man so sehen“, meint Professorin Gehring. „Aber
manchmal ist so ein Riss auch einfach Mist.“

Das stimmt natürlich. Mit der zunehmenden Digitalisierung unserer Leben fallen der Verfall, die Vernachlässigung und die Misswirtschaft
der analogen Welt umso bitterer auf. An kaputtgesparten Schulen erkennt man sie,
an löchrigen Straßen und den zerrissenen Zelten der Obdachlosen, die unter der
U-Bahntrasse der U1 im Wind wehen, während dort mal wieder Schienenersatzverkehr herrscht. Das ist nicht romantisch. Es
ist einfach Mist. Aber: Wenn der Mist dazu führt, dass wir unseren Blick in andere
Richtungen lenken und Konsequenzen ziehen, können wir aus der
Kaputtheit vielleicht etwas lernen – und Reparaturen vornehmen, die weiter reichen als ein schnöder Smartphone-Neukauf.

Bild aus (vermeintlich) besseren Zeiten: die Autorin mit noch intakter Handyhülle © Privat

Ich frage also Professorin Gehring: Brauchen wir Menschen das Kaputte? Oder ist das Streben nach seiner
Überwindung unser ultimatives Ziel? „Wir sind sehr schnell bereit, uns
selbst als das Imperfekte und die Technik als das Perfekte wahrzunehmen“,
sagt sie. „Aber mit Fehlern beginnen Geschichten. Das Kaputte erzeugt
Geschichten! Wenn sich eine Patina über eine Ledertasche legt, hat der
Gegenstand plötzlich eine Biografie. Deshalb wollen wir beides. Wir wollen,
dass alles funktioniert, und wir wollen zugleich, dass die Welt nicht perfekt
ist.“

Mein Telefon wird deshalb fürs Erste kaputt bleiben. Mittlerweile sorgt der Riss auf meiner Kameralinse für einen verschwommenen Spiegeleffekt. „Cooler Filter“, kommentierte kürzlich jemand unter einen meiner Social-Media-Posts. Wahrscheinlich habe ich das gelesen, während ich wieder einmal auf eine verspätete U1 gewartet habe.