Stand: 05.08.2025 06:00 Uhr
Der Niederländer Tommy Wieringa erzählt in „Nirwana“ von Schuld, Liebe und dem Zerfall der Demokratie – ein Roman als Spiegel unserer Zeit.
Hat ein Wettrennen Richtung Apokalypse möglicherweise mit Langeweile begonnen?
Es sah aus, als fände das fabelhafte demokratische Experiment durch so etwas Stumpfsinniges wie Langeweile sein Ende, es passierte einfach zu wenig. Die Kanonen schwiegen, der Durchschnittsmensch starb an Altersschwäche. Die Bürger hatten nicht die geringste Lust, ihre hart erkämpften individuellen Freiheiten zu verteidigen, nach einem Dreivierteljahrhundert Frieden, Freiheit und Wohlstand stand ihnen der Sinn schlicht nach Abwechslung – Rebellen aus Langeweile und Revolutionäre aus Zerstörungswahn.
Leseprobe
Die Verbrechen der Vergangenheit und der Gegenwart
Die Bedrohung rückt immer näher. Demokratie-zerstörende Regierungschefs werden demokratisch vom Volk gewählt. Wieringa erzählt von einer Familie, deren Familienoberhaupt 100 Jahre alt ist und ein enormes Vermögen anhäufen konnte, unter anderem durch den Bau und Vertrieb von Ölförderplattformen. Sein Sohn hatte nicht das Zeug zum Nachfolger, aber einer seiner Enkel lässt eine noch viel größere Bohrplattform der Superlative bauen. 13.000 Tonnen Stahl – mitten im Meer oder bald an den Polen, um den Fortbestand des Systems, wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand weiterhin zu garantieren. Es ist Willem, der das Unternehmen seines Großvaters übernimmt und steigert. Sein Zwillingsbruder Hugo ist Künstler geworden und arbeitet als Maler an einem entgegengesetzten Projekt. Er hat die Tagebücher seines Großvaters gefunden und deckt dessen grausame Nazi-Vergangenheit auf. 1941 notierte der in seinem Tagebuch:
… als wir nach Tagen in Mariupol ankamen, waren die Erschießungen immer noch im Gange. Scharenweise wurden sie am Ufer des Parkteichs abgeknallt. Wer noch lebte, rang unter den Toten nach Atem. Scheußlicher Gestank. Das auserwählte Volk. Wo ist er jetzt, der Gott der Israeliten?
Leseprobe
Die Tagebücher sind von ungerührter, unerklärlicher Distanz zum Geschehen geprägt. Der Enkel will sich mit dieser Schuld auseinandersetzen; dazu gehört es, das unbefleckte Bild des Großvaters, der offenbar ohne jedes Schuldgefühl mit unbeirrbarem Willen und stählernem Selbstbewusstsein ein Unternehmen aufgebaut hat, zu hinterfragen.
Tommy Wieringa erzählt mit unbezähmbarer Lust
Das alles findet statt in einer Epoche, in der die Ansichten innerhalb der Gesellschaft tief auseinanderklaffen. Es gibt die, die sich mit diesem Teil der Geschichte beschäftigen, und die, die den Rechtspopulisten nachlaufen und mit rachsüchtiger Wut alles bekämpfen, was ihnen in den Weg gestellt wird. Raffiniert ist in diesem Roman, dass hier mit einer unbezähmbaren Lust am Leben, an der Liebe, am Genuss erzählt wird. Die Romanfigur Hugo trifft mit einem Schriftsteller namens Tommy Wieringa zusammen, der auch an dieser Geschichte arbeitet, und Hugo will ihm zuvorkommen.
Ein Roman von solcher Kraft und Wucht erscheint nicht in jeder Saison – vielleicht alle zehn Jahre mal. Am Anfang und in der Kurzbeschreibung auf dem Klappentext mag man abwehrend noch denken: Warum sollte ich mich für eine niederländische Familiensaga interessieren? Aber das ist es eben nur am Rande, als Klammer für eine unfassbare Studie über die Verbrechen des 20. Jahrhunderts und wie wir es im 21. Jahrhundert eben nicht schaffen, auch nur ansatzweise damit fertig zu werden, sondern sich daraus immer neue Verbrechen ergeben. Verbrechen an der Menschheit, an der Umwelt oder am Klima und an der Zukunft aller. Solange solche Bücher wie dieses erscheinen, glaube ich noch an eine mögliche Zukunft.
Nirwana
von Tommy Wieringa
- Seitenzahl:
- 480 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Niederländischen von Bettina Bach
- Verlag:
- Hanser
- ISBN:
- 978-3-446-28161-5
- Preis:
- 28 €
Schlagwörter zu diesem Artikel