Ein Kopfschütteln reichte, um einen Zuschauer in der Talkshow „maischberger“ zur Zielscheibe digitaler Hetze zu machen. Eine neue VOLLBILD-Recherche zeigt, wie unter anderem rechtsextreme Influencer solche Hasswellen in Gang setzen.
Anfang des Jahres, kurz vor der Bundestagswahl: Am 22. Januar 2025 sitzt der Student Konstantin Saalfeld in der ARD-Talkshow „maischberger“. Aus Kameraperspektive sitzt er direkt hinter AfD-Chefin Alice Weidel. Er schüttelt mehrmals den Kopf, während Alice Weidel spricht – eine Meinungsäußerung. Doch diese Geste zieht für den Studenten ungeahnte Konsequenzen nach sich.
Auf Social Media bricht gegen Saalfeld eine Welle der Empörung aus. In kurzer Zeit verbreiten sich auf den Plattformen X und TikTok Screenshots, Videoausschnitte und Memes, die Saalfeld kopfschüttelnd hinter Alice Weidel zeigen. Auch sein Name wird genannt und die Tatsache, dass Saalfeld vor Jahren einmal Sprecher eines Stadtverbands der Grünen Jugend war. Unter den Posts sammeln sich Hasskommentare.
Sogar auf privaten Social Media-Profilen erreicht ihn die Hetze. Beleidigungen wie „Dreckspack“ und „Hurensohn“ sind darunter, aber auch Drohungen: „Ich hoffe, dich hat jemand auf der Liste“ oder „Da kann man nur hoffen, dass ihm nicht mal ein Messer im Park beschert wird“. „Das war gruselig“, sagt Konstatin Saalfeld im Interview mit VOLLBILD.
Bundeskriminalamt: mehr strafbare Hassbeiträge
Dieses Gefühl müssen jährlich Tausende erleben. Das Bundeskriminalamt erfasst immer mehr strafbare Hassbeiträge im Netz. 2024 registrierte es mehr als 10.000 Fälle, die Zahl sei seit 2021 um das Vierfache gestiegen. 44 Prozent der Hassbeiträge stammten 2024 laut BKA aus dem rechten Spektrum.
Wer sind die Menschen, die Konstantin Saalfeld zur Zielscheibe machten? Dieser Frage geht ist eine VOLLBILD-Dokumentation nachgegangen und hat analysiert, was mit dem entfachten Hass bezweckt werden soll. Bei der Recherche ist den Reportern unter anderem ein Post besonders aufgefallen, in dem schon kurz nach der Sendung ein Ausschnitt des Kopfschüttelns gezeigt wird und in dessen Kommentarspalten sich besonders viel Hass findet. Gepostet hat den Beitrag Timm Kellner: ein ehemaliger Polizist, heute ein bekannter Influencer.
Der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen bezeichnete Kellner in seinem Jahresbericht 2023 als Rechtsextremist. Er sei ein Multiplikator der sogenannten „Delegitimierer“-Szene – also jener Gruppierungen, die gezielt das Vertrauen in demokratische Institutionen untergraben wollen.
Die Strategie rechtsextremer Influencer
Auf YouTube und Instagram folgen Kellner zusammen mehr als 760.000 Menschen. Für seine Community inszeniert er sich vor allem als Entertainer und Satiriker. Der Verfassungsschutz NRW beschreibt Kellners Strategie in seinem Jahresbericht 2023 wie folgt: „Das markanteste rhetorische Stilmittel von Kellner ist Ironie, womit er einerseits unterhalten, und andererseits seine menschenrechts- und demokratiefeindlichen Äußerungen verbrämen möchte.“ Die Hasswellen folgen dann häufig durch die Kommentare seiner Community.
Laut Friedens- und Konfliktforscher Andreas Zick von der Universität Bielefeld liegt gerade darin die Gefahr. „Die rechte Szene möchte diesen vorideologischen Raum, diesen, der nicht eindeutig rechtsextrem ist, der nicht eindeutig die freiheitlich-demokratische Grundordnung angreift.“ Genau das sei für rechtsextremistische Netzwerke attraktiv, mache Hetze salonfähig. Mit seinen unterhaltsamen Videos und Posts, mit einer lauten Inszenierung bilde Kellner eine Brücke in die Mitte der Gesellschaft.
Wie groß die Strahlkraft von Timm Kellner ist, zeigt eine von ihm organisierte Veranstaltung vor wenigen Wochen in Nordrhein-Westfalen: ein Grillfest für Anhänger der Biker-Szene. Alle seien eingeladen, heißt es bei Instagram. Und die Kennzeichen der Fahrzeuge verraten, dass die Besucher aus ganz Deutschland anreisten, um Kellner zu sehen. Die Journalisten des VOLLBILD-Teams hingegen wurden nicht aufs Gelände gelassen. Auch mehrere Interviewanfragen ließ Kellner über Wochen unbeantwortet.
Deshalb schleuste das Team einen Kollegen undercover auf die Veranstaltung. Heimlich gedrehte Aufnahmen zeigen Teilnehmer mit rechtsextremer Kleidung und teils verbotenen Symbolen, etwa dem SS-Totenkopf. Im Gespräch mit dem Undercover-Reporter sprach Timm Kellner auch über den Hass im Internet. Auf die Frage, wen er als nächstes „zerlege“, antwortete Kellner. „Wer sich anbietet und wer es verdient hat. Ich such das immer situativ aus, und die kriegen dann natürlich richtig.“ Auch alle schriftlichen Fragen zu den Vorwürfen ließ Kellner unbeantwortet.
Reul: „Jeder muss sich wehren“
Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) fordert im Interview mit VOLLBILD mehr Entschlossenheit im Umgang mit Online-Hass: „Erstens, jeder muss sich an seiner Stelle dagegen wehren und das aktenkundig machen. Nicht ertragen nach dem Motto: ‚Ist Kleinkram‘, sondern alles vor Gericht bringen, alles anzeigen. Zweitens Polizei, die den Sachen auch ordentlich nachgeht. Aber drittens, und das ist nicht weniger wichtig, auch ein Widerspruch in der Gesellschaft. Jeder kann an seiner Stelle doch sagen, wenn solche Debatten stattfinden: ‚So geht das nicht‘.“
Er kritisiert, dass die Kommunikation inzwischen an vielen Stellen durch Hass und Hetze bestimmt werde. Er selbst bringe viele Mails, Posts und Briefe mit Anfeindungen und Hassbotschaften, die er erhalte, zur Anzeige, doch bisher sei nie etwas dabei herausgekommen. „Man muss sich vieles erlauben lassen, weil das Recht der freien Rede, der freien Meinungsäußerung wichtiger ist. Ich hätte nichts dagegen, wenn sich da das Bewusstsein ein wenig verändern würde“, sagte Reul.
Konstantin Saalfeld hat acht seiner Hassposts angezeigt. Doch alle Verfahren wurden eingestellt. Er hat einen anderen Weg gefunden, mit der negativen Aufmerksamkeit umzugehen. Auf TikTok teilt er seine Erfahrungen und ermutigt Nutzer dazu, sich gegen Hass im Netz zu engagieren.