Einzig aus einer Position der Stärke heraus kann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine beendet werden, meint unsere Gastautorin. Eine Koalition der Willigen müsse alles tun, damit das Morden in der Ukraine beendet wird – im Interesse auch unserer nationalen Sicherheit.
Am 11. Juli jährte sich der Genozid von Srebrenica zum 30. Mal: Damals fielen serbische Truppen unter dem Kommando des bosnisch-serbischen Generals Ratko Mladić in die UN-Schutzzone ein: Mladićs Einheiten trennten Frauen und Mädchen von den männlichen Familienmitgliedern und brachten in der Folge mehr als 8.300 muslimische Jungen und Männer um.
Der Westen reagierte drei Jahre zögerlich auf die Aggression von Serbiens Machthaber Slobodan Milošević. Der hatte sich 1991 mit seinem kroatischen Kollegen Franjo Tuđman getroffen. Man einigte sich auf die Aufteilung Bosniens: Es folgten schwerste Kriegsverbrechen im Namen von Groß-Serbien und Groß-Kroatien (Herceg-Bosna).
Und der Westen? Blieb passiv – trotz der jahrelangen Granatierung Sarajevos, trotz der Vertreibungen, trotz Zehntausender Vergewaltigungen. Keine Reaktion auf Berichte über Internierungs-Camps, in denen Menschen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit ausgehungert und gefoltert wurden. Der Westen schaute zu, wie sich völkische Vernichtungspläne Bahn brachen. Zusätzlich wurde Bosnien und Herzegowina mit einem Waffenembargo die Möglichkeiten zur Selbstverteidigung genommen.
Die Angriffe werden heftiger, doch der Westen zögert
Das historische Versagen des Westens hat sich kaum im europäischen Erinnerungsraum manifestiert. Die Lehre für den Umgang mit imperialen Aggressoren wurde nicht gezogen: Was tun mit Potentaten, die das Völkerrecht mit Füßen treten, die Grenzen gewaltsam verändern, um ein Land, ein Volk auszulöschen?
30 Jahre später ist der Zermürbungskrieg Russlands gegen die Ukraine in vollem Gange: Neuerlich wird in besetzten Gebieten gefoltert, vergewaltigt, Kinder werden zu Tausenden geraubt, um sie zu Russen „umzuerziehen“ – das Ziel, so formulieren es russische Vertreter: die Auslöschung der Ukraine.
Gastautorin Marion Kraske. Foto: Rudi Froese
Mitte Juli erlebte Kiew die intensivsten Angriffe seit Beginn des Krieges: Mehrere hundert Drohnen flogen in einer Nacht auf die ukrainische Hauptstadt zu, dazu Angriffe in anderen Gebieten mit Raketen und Gleitbomben. Die Aggression gegen Zivilisten ist das Mittel der Stunde, während der Westen – wie schon in den 1990ern – zögert. Derweil erhält Russland Unterstützung unter anderem von Nordkorea und China. In einem Interview machte Russlands Präsident Putin jüngst klar, welche Maxime seiner Politik zugrunde liegt: Dort, wo ein russischer Soldat seinen Fuß hinstelle, sei russischer Boden, verkündete er Ende Juni und sprach der Ukraine erneut das Existenzrecht ab.
Abrüstung würde den Kriegsverbrechern in die Hände spielen
Vor diesem Hintergrund muten jene Stimmen in Deutschland grotesk an, die auf eine Gesprächsbereitschaft Russlands pochen. Geradezu ins Abseits katapultieren sich jene Vertreter, wie jüngst beim SPD-Parteitag, die mit Pickelhaube und roten Leibchen ausstaffiert, die Losung ausgeben: Abrüsten!
Abrüsten in einer Situation, in der Russland einen heißen Krieg führt und den Terror gegen die Ukraine verschärft? In einer Situation, in der Russland hybride Angriffe gegen den Westen lanciert? Ein derartiges Unterfangen würde einzig den Kriegsverbrechern in die Hände spielen und Deutschland existenziellen Schaden zufügen, uns angreifbarer machen.
Derart blinde Realitätsverweigerung offenbart einen eklatanten Mangel an Analysefähigkeit, sie schwächt den Meinungsbildungsprozess und lenkt von der eigentlichen Debatte ab: Wann wird der Westen die Ukraine endlich so ausstatten, dass sie den Krieg gegen Russland gewinnen kann?
Nur durch Stärke kann das Morden gestoppt werden
Statt Pickelhauben-Klamauk braucht die Debatte eine neue Klarheit: Die Aggression gegen die Ukraine, der Terror gegen Zivilisten muss schnellstmöglich beendet werden. Das gelingt nicht mit Vertröstungen und dem naiven Vertrauen in einen Aggressor, er möge irgendwann von alleine von seinen imperialen Zielen Abstand nehmen.
Die Bundesregierung ist gut beraten, dringend eine adäquate Krisenkommunikation zur tatsächlichen Bedrohungslage auf den Weg zu bringen, damit auch die Pickelhauben-Clowns begreifen: Die Ukraine kämpft an vorderster Front in einem Krieg Russlands gegen uns alle, die liberalen Demokratien.
Einen Sieg gegen militärische Aggression erringt man mit einer Strategie des Containments, mit der man nicht nur die Ukraine, sondern auch die eigene Verteidigungsfähigkeit stärken würde. Einzig aus einer Position der Stärke heraus kann Putins Feldzug beendet werden. Eine Koalition der Willigen muss alles tun, damit das Morden in der Ukraine beendet wird – im Interesse auch unserer nationalen Sicherheit. Der Westen darf die Fehler der 1990er-Jahre nicht wiederholen.
Marion Kraske ist Politologin und langjährige Auslandskorrespondentin mit Schwerpunkt Südosteuropa.