In den Ferien zwangsverheiratet – auch Perwin drohte dieses Schicksal, bis sie in Stuttgart eine neue Identität annahm. Sie erzählt, wie sie in ein freies Leben fand.

A n einem klaren Junimorgen endet Perwins altes Leben. Zwei Stunden hat sie Zeit, bevor die Eltern misstrauisch werden könnten, bevor die Ausrede, zum Arzt zu müssen, bröckelt. Perwin packt zwei Unterhosen und ein Familienfoto in ihre Handtasche, schlüpft in T-Shirt und Jeans, zieht eine Basecap tief ins Gesicht, öffnet die Haustür wie ein schweres Tor ins Freie und schließt sie hinter sich. Im Zug schreibt sie eine Whatsapp-Nachricht an die Schwester: „Ich bin weg. Ich werde nicht zurückkommen. Lasst mich mein Leben leben.“ Dann schaltet sie dieses Handy für immer aus.

Vier Jahre später sitzt Perwin, die mit einem anderen Namen auf die Welt kam, auf dem Sofa der Beratungsstelle Yasemin in Stuttgart und denkt an diesen Sommertag, an dem sie die Fesseln ihrer Herkunft löste, ach was: sprengte. In einem unerhörten Akt. Einem lebensgefährlichen auch. Für das, was sie tat, wurden andere Frauen von ihren Familien ermordet.

Die Frauen dürfen kein „Ich“ haben

Neben Perwin sitzt Aischa Kartal von der Evangelischen Gesellschaft (Eva), auch sie trägt zu ihrem Schutz einen anderen Namen. Kartal begleitet die heute 23-Jährige seit deren Ankunft in Stuttgart. Perwin lebt im Wohnprojekt Rosa, das seit 40 Jahren jungen Frauen hilft unterzutauchen, zu sich selbst und in ein selbstbestimmtes Leben zu finden. Jungen Frauen wie Perwin, die aus ihren Familien fliehen, weil sie eingesperrt, geschlagen, gegen ihren Willen verheiratet werden. Weil sie in einer patriarchalen Struktur kein „Ich“ haben dürfen, so beschreibt es Aischa Kartal. Und Perwin sagt: „Frauen sind bei uns nur zum Heiraten und Gebären da.“

Wie ist das, wenn man alles zurücklässt? Wenn das Aufwachsen, die Familie, all die eingebrannten Regeln und Glaubenssätze nicht mehr gelten dürfen? Wenn man also dieses „Ich“ erst finden muss?

Perwin stammt aus einer jesidischen Familie. Als Sechsjährige flieht sie aus dem Irak nach Deutschland, wächst außerhalb Baden-Württembergs auf. Ihre Kindheit verläuft im engen Korsett der Sitten- und Erziehungsvorstellungen ihrer Kultur. Eine Frau muss rein sein, darf der Familie keine Schande machen, muss ihre Wünsche, Träume und Gefühle der männlichen Moral des Kollektivs unterordnen. Das Mädchen Perwin darf keine Freundinnen und Freunde haben, kaum mit anderen sprechen, schon gar nicht mit Jungen. Als sie das erste mal ihre Periode bekommt, weiß sie gar nicht, warum das Blut aus ihr fließt.

Wenn die Mitschüler auf der Straße rennen, sitzt Perwin im Kinderzimmer, das sie sich mit vier Geschwistern teilt. Immerhin Filme darf sie sehen, viele sogar. Ein erstes Tor geht auf. „Kevin allein zu Haus“ mag Perwin zum Beispiel, diese chaotische, kinderreiche Familie darin, in der jeder gleich viel zählt und darf. Brüder wie Schwestern. „Warum ist das bei mir nicht so?“, denkt Perwin manchmal.

Der Vater schlägt den Kopf der Schwester an die Wand

Was mit Frauen passiert, die sich nicht einfügen, aber auch nicht radikal genug frei machen, erlebt Perwin bei ihrer älteren Schwester. Die will lieben, wen sie will. Der Vater schlägt ihr dafür den Kopf gegen die Wand. Die Schwester flieht mehrfach ins Frauenhaus und kehrt jedes Mal zurück. Am Ende heiratet sie einen Mann, den die Familie gewählt hat. Der Sog der Prägung war zu stark, sagt Perwin. Aber es habe der Schwester auch an Hilfe und Anleitung gefehlt.

Perwin will es anders machen. Dass sie gehen muss, die Hoheit über ihren Körper zurückbekommen will, weiß sie, als sie sich zum ersten Mal in einen Mitschüler verliebt. Was für ein mächtiges Gefühl für eine, die sich selbst nicht leiden kann! Es macht süchtig, sagt Perwin. Weil sie noch auf die Realschule geht und danach ein Freiwilliges Soziales Jahr anschließt, kann sie die Heiratsanträge ablehnen, die schon ins Haus flattern, seit sie 16 Jahre alt ist. Aber spätestens nach dem FSJ wird sie einen Mann nehmen müssen. Die Zeit zu fliehen drängt. Jetzt oder nie.

Die Familie zu verlassen, unterzutauchen ein Leben lang – das würden wenige schaffen, sagt Aischa Kartal. Durch die Abschottung daheim ohne Lebenspraxis, zu emotionalen Analphabeten geworden, wüssten viele gar nicht um diese Möglichkeit. Dazu bräuchte es Helfer. Freundinnen, Lehrkräfte, Erzieherinnen, Nachbarn, Behördenmitarbeiter, die hinsehen.

Perwin hat so eine Vertraute, eine Frau, die sie aus der Hausaufgabenbetreuung kennt. Im verdunkelten, abgeschlossenen Zimmer füllen sie im Geheimen Anträge für das Jugendamt aus, um bei Rosa aufgenommen zu werden. In dem Hilfsangebot im fernen Stuttgart leben Betroffene zwischen drei und fünf Jahre. Diese Frau ist es auch, die Perwin zum Bahnhof fährt, an diesem Junimorgen vor vier Jahren, im Gepäck die Kleidung und Dokumente, die die junge Frau zuvor über Wochen aus der elterlichen Wohnung geschmuggelt hat. Am Abend vor ihrer Flucht kuschelte sich Perwin vor dem Fernseher an ihre Mutter. Das hatte sie zuvor nie getan.

Absturz mit Drogen und Alkohol

Es ist sicher auch dieser Abbruch aller Wurzeln, der Perwin in Stuttgart in einen Abgrund treibt – da hilft zunächst auch nicht das kümmernde Netz der Fachkräfte bei Rosa. Alkohol, Zigaretten, Cannabis. Feiern, rausgehen, rummachen – das erste Jahr verbringt sie im Nebel. Bis es nicht mehr geht. Sie entscheidet sich für eine Suchtklinik. Danach beginnt ihr „normales Leben“, sagt Perwin.

In kleinen Schritten baut sie sich eine neue Geschichte auf: neuer Name, neues Geburtsdatum, neue Frisur und Kleidung, neue Herkunft und Familienhistorie. Die Gefahr, von ihren Eltern, Geschwistern, Volksleuten gefunden zu werden, ist sonst zu groß. Nur drei gute Freundinnen wissen heute, wer sie einmal war.

Zwangsverheiratung ist ein Straftatbestand, der aber nur selten angezeigt wird. Foto: IMAGO/Steinach

Bei Rosa, wo bis zu 15 Mädchen und Frauen wie sie leben, lernt sie, damit umzugehen. Wie lebt man mit einer fiktiven Biografie? Wie hinterlässt man keine Spuren zu sich in den Sozialen Medien oder anderswo? Jeder Kontoauszug, der versehentlich an ihre alte Adresse ginge, könnte sie in Lebensgefahr bringen. Das sind Dinge, die Perwin üben muss. Aber eben auch, wie man sich zwischen Ursprungs- und Schutzexistenz nicht verliert, im Gegenteil zu sich findet, mit allen Rechten, die eine Frau in Deutschland hat. Nein zu sagen, Grenzen zu setzen, einen Streit zu klären ohne Gewalt, Beistand von Polizei und Behörden – solche Dinge.

Perwin hat im Sommer eine kaufmännische Ausbildung abgeschlossen, lebt in einer eigenen Wohnung. Im Herbst wird Rosa für sie zu Ende gehen. Weiß sie nun, wer sie ist? „Man kennt sich doch nie 100 Prozent“, sagt Perwin, aber sie habe die „Basis für eine starke Persönlichkeit“ aufgebaut. Zu ihrer Familie will sie auch in Zukunft keinen Kontakt aufnehmen. Zu groß sei die Gefahr, in alte Muster zu fallen. „Den Geschmack der Freiheit geb’ ich nicht mehr her.“

Angebote für junge Frauen in Not

Zwangsehe
Wie viele Mädchen und Frauen in Baden-Württemberg gegen ihren Willen im In- oder Ausland, oft in den Ferien, heiraten müssen, lässt sich nicht genau bestimmen. Seit 2011 ist Zwangsverheiratung ein Straftatbestand, doch die Polizeistatistik bildet nur die Spitze des Eisbergs ab. Deutschlandweit weist sie 68 Fälle für 2024 aus, für Baden-Württemberg war es zuletzt eine einstellige Anzahl. An die Stuttgarter Kontaktstelle Yasemin, die Frauen und Männer berät, die von jeglicher Gewalt im Namen der sogenannten Ehre betroffen waren, wenden sich jedes Jahr mehr Hilfesuchende. 250 waren es zuletzt. Ein Großteil sind Geflüchtete aus Ländern wie Syrien, Afghanistan, dem Irak, aber auch Menschen mit Migrationshintergrund in der Türkei.

Rosa
1985 wurde das Langzeit-Wohnprojekt Rosa von engagierten Fachfrauen ins Leben gerufen, seit 2002 ist es in der Trägerschaft der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (Eva) und bietet 15 Plätze an. In drei Phasen helfen Fachkräfte den jungen Migrantinnen, die Gewalt und Zwang in ihren Familien erleben, in ein selbstbestimmtes Leben. Schritt für Schritt lernen sie, wie sie mit einer fiktiven Biografie und allein leben können. Von den 202 Bewohnerinnen, die bislang bei Rosa Hilfe fanden, blieben viele ihr Leben lang ohne Kontakt zu ihren Familien.

Nadia
Seit fünf Jahren besteht außerdem die anonyme Kurzzeit-Zuflucht Nadia der Eva mit vier Plätzen für Mädchen ab 14 Jahren, die von Gewalt im Namen der sogenannten Ehre betroffen sind. Zwei weitere Plätze für Frauen ab 18 Jahren werden vom Sozialministerium Baden-Württemberg finanziert. Bei Nadia kommen die Hilfesuchenden zur Ruhe, werden mit Essen, Trinken, einem Schlafplatz versorgt und beraten, wie es weiter gehen soll.

Dieser Artikel erschien erstmals am 2. August 2025 und wurde am 5. August aktualisiert.