Nach Jahrzehnten gemeinsamen Lebens ist der Ehemann von Kathrina Bleicher (78) aus Stuttgart-Weilimdorf (*Name auf Wunsch geändert) im vergangenen Juli gestorben. Sein Tod kam plötzlich, innerhalb von zwei Monaten. Nach einem erfüllten gemeinsamen Leben blieb eine große Leere. „Ich bin schon in ein Loch gefallen“, sagt Bleicher. „Wir haben hier in der Gegend nicht viele Freunde“, sagt Bleicher. Sie seien erst mit Mitte 30 nach Süddeutschland gezogen.

Und jetzt als Rentnerin falle es ihr schwer, plötzlich neue Kontakte knüpfen zu müssen. Allein ins Kino oder ins Theater zu gehen, hilft auch oft kaum gegen die Einsamkeit. Einige Monate nach dem Tod ihres Mannes stößt Kathrina Bleicher im Amtsblatt Weilimdorf auf eine Anzeige für eine neue Initiative: „Gemeinsam gegen Einsam“.

Die Gruppe trifft sich auch heute noch regelmäßig

Bleicher meldet sich direkt bei dem Organisator Alexander Müller (76). Er ist Psychologe und hat in seiner Arbeit oft erlebt, dass vor allem Senioren sich schwertun, neue tragfähige Kontakte aufzubauen, weil ihnen dafür die Strukturen im Alltag fehlen. „Ich habe Alexander dann direkt angemailt und mitgemacht“, sagt Bleicher.

Über mehrere Wochen hat sie die moderierte Gruppe besucht – einmal die Woche, zehn Menschen. Für sie persönlich war die Gruppe ein Glücksfall. Seit dem Ende des Projekts haben sie eine gemeinsame Whatsapp-Gruppe. Mehrmals die Woche unternehmen sie etwas zusammen. Wer ins Theater will oder einen Spielenachmittag veranstaltet, postet einfach, ob noch jemand mit möchte.

Die fünf Gruppen von Müller hatten unterschiedliche Schwerpunkte. Bleicher hat sich für den Schwerpunkt Kunst und Kultur entschieden. „Ich liebe Theater sehr. Das hat für mich gut gepasst“, sagt sie. Jede Woche hätten sie im Kurs ein Programm gehabt, wie verschiedene Spiele, bei denen es darum ging, sich zu öffnen. Manchmal hätten sie auch Körperübungen gemacht. „Ich habe da wirklich sehr viel für mich mitgenommen“, sagt Kathrina Bleicher.

Einsamkeit entsteht oft auch dadurch, dass Menschen nur oberflächliche Kontakte haben, mit denen sie kaum über Probleme und Sorgen sprechen können. Sich anderen zu öffnen, sich verletzlich zu zeigen, stärkt Bindungen.

Menschen brauchen einander, betont auch Müller. Dies sei ein evolutionäres Erbe aus der Steinzeit, in der Nähe kein Wohlfühlfaktor allein gewesen sei, sondern Lebensversicherung. Eine Gruppe bedeutete Schutz, Nahrung und Überleben. „Dieses uralte Erbe wirkt bis heute in uns nach. Unser Gehirn denkt in Steinzeit, auch wenn wir längst Zentralheizung, Netflix und Lieferdienst haben“, so glaubt Müller. Er ist überzeugt davon, dass digitale Beziehungen unser Bedürfnis nach Nähe nur unzureichend erfüllen können.

Körperliche Nähe setzt zum Beispiel Oxytocin frei, das Stress reduziert, unser Immunsystem stärkt und den Blutdruck senkt. Eine Whatsapp-Nachricht habe nicht diesen Effekt. „Unser Körper braucht echte Resonanz, geteilte Erlebnisse und körperliche Nähe“, davon ist Müller überzeugt.

Wer einsam ist, hat nicht versagt

Einsamkeit sei auch kein persönliches Versagen, ergänzt Müller. Dennoch sei das Gefühl schambehaftet und tabuisiert. Biologisch gesehen, sei es jedoch ein Alarmsignal, ein Zeichen, dass das soziale Netz zu dünn ist.

Was Müller aus der Praxis kennt, bestätigt auch die Forschung. Die Universität Harvard hat vor einiger Zeit eine viel zitierte Studie veröffentlicht, wonach es vor allem verlässliche und enge Beziehungen sind, die unsere Lebenszufriedenheit und Gesundheit bis ins hohe Alter garantieren – nicht etwa viel Geld.

Die Idee zu dem Einsamkeitsprojekt kam Alexander Müller als er selbst auf der Suche nach Sinn war. Mit Beginn seines Ruhestandes reduzierte er seine Arbeitszeit in seiner psychologischen Praxis in Bad Cannstatt auf einen Tag die Woche. Er sei aber „sehr umtriebig“ und habe daher nach einem ehrenamtlichen Projekt gesucht. Zeitgleich habe sich sein 94-jähriger Nachbar aus Einsamkeit das Leben genommen.

In einer Zeitschrift sei er auf das in Finnland entwickelte Gruppenprojekt „Circle of Friends“ gestoßen. Dies hatten finnische Forscher entwickelt, um älteren Menschen zu helfen, neue soziale Bindungen aufzubauen. Das Programm gilt international als eines der wirksamsten Modelle gegen Einsamkeit im Alter. In moderierten Kleingruppen sollen Vertrauen und neue Bindungen entstehen.

Müller hat unter anderem Forscher in Helsinki angeschrieben und von dort Material bekommen. Danach hat er selbst sein Projekt in Weilimdorf gestartet mit anfangs 30 Personen. Moderatoren begleiten die Gruppen. Inzwischen sind weitere Gruppen gestartet, eine nur für Männer. Die ehemalige Berufsschullehrerin Britta Lindner moderiert derzeit eine Gruppe. „Ich arbeite gerne mit Menschen und es ist mir wichtig, menschliche Beziehungen zu stärken“, sagt Lindner.

Einsamkeit ist auch ein gesellschaftliches Thema

Einsamkeit ist in den vergangenen Jahren ein großes Thema in der Gesellschaft geworden. In Großbritannien gibt es ein Einsamkeitsministerium, die deutsche Bundesregierung hat eine „nationale Strategie“ gegen Einsamkeit. In vielen Städten und Kommunen existieren Projekte, um Menschen zu Begegnungen zu animieren.

Politisch steht das Thema seit Jahren auf der Agenda, weil Einsamkeit nicht nur individuelle Folgen hat, sondern auch gesellschaftliche. Die Soziologen Claudia Neu und Berthold Vogt fanden in einer Untersuchung zum Beispiel heraus, dass einsame Menschen sich häufiger aus demokratischen Prozessen zurückziehen. Ihnen fehlt das Vertrauen in Institutionen, sie beteiligen sich seltener an Wahlen und sind anfälliger für Polarisierung und Verschwörungstheorien.

Vor allem drei Gruppen sind häufig von Einsamkeit betroffen

Rund zehn bis 15 Prozent der Menschen fühlen sich laut Befragungen sehr häufig einsam. Betroffen sind vor allem ältere Menschen, Alleinlebende und junge Erwachsene. Die 2023 veröffentlichte Studie „Extrem einsam“ zeigte, dass junge, einsame Menschen in den letzten Jahren besonders anfällig für extreme politische Positionen wurden. Bei der Bundestagswahl im Februar 2025 wählten 18- bis 25-Jährige mehrheitlich die AfD oder die Linke.

Diskutiert wird in den vergangenen Jahren auch immer wieder, ob Einsamkeit in modernen Gesellschaften zunimmt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet Einsamkeit zum Beispiel als „globale Epidemie“. Der Forscher Janosch Schobin von der Universität Göttingen hat sich in seinem Buch „Zeiten der Einsamkeit“ intensiv damit auseinandergesetzt. In seiner Analyse stellt er sechs wissenschaftliche Thesen zur Einsamkeit gegenüber: Drei deuten auf eine Zunahme hin, drei auf eine mögliche Abnahme von Einsamkeitsgefühlen in der Gesellschaft hin. Die Alterungsthese, die These der verlorenen Gemeinschaft und die politische Entfremdung sprechen dafür, dass Menschen künftig einsamer werden.

Traditionelle Bindungen machten viele Menschen einsam

Doch es gibt auch Argumente dafür, dass besonders Emanzipation, Wohlstand und Inklusion Einsamkeit entgegenwirken. „Sie reduzieren Armut, mehren den Wohlstand und ermöglichen eine freiere Entfaltung des Einzelnen“, schreibt Schobin. Die Lockerung traditioneller Bindungen an Familie, Klasse oder Religion schaffe Raum für „gewaltfreie, intensive Bindungen, die auf wechselseitiger Zuneigung basieren“.

Häufig sind es Umbruchsituationen, wie ein Umzug, eine Trennung, die Geburt eines Kindes oder eben auch der Tod des Partners, die Einsamkeitsgefühle hervorrufen. „Das Fatale: Wer sich einsam fühlt, zieht sich oft noch weiter zurück. So entsteht ein Teufelskreis aus Isolation und seelischem Schmerz“, sagt Alexander Müller.

Kathrin Bleicher betont, dass in ihrer Gruppe die wenigsten unter extremer Einsamkeit gelitten hätten. Aber sie seien alle verwitwet. „Wir waren nicht die Alten, die zu Hause sind und verkommen“, sagt sie und lacht. Dennoch sei sie es nicht gewohnt gewesen, allein zu leben. Durch die vielen Aktivitäten der Gruppe könne sie sich jederzeit bei etwas anschließen – und fühle sich seitdem vor Ort sehr aufgehoben.

Projekt in Weilimdorf

Initiative
Das Projekt „Gemeinsam gegen Einsam“ in Weilimdorf hat zum Ziel, Menschen über 60 zusammenzubringen, die sich einsam fühlen oder einfach nur neue Kontakte und Freunde finden möchten. Anfangs finden die Treffen in moderierten Gruppen statt. Es gibt Gruppen für Männer und Frauen.

Kontakt
Weitere Informationen gibt es bei dem Organisator Alexander Müller; E-Mail: info@GemeinsamGegenEinsam.org oder unter der Website www.weilimdorf.de (nay)