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Bürgergeld beziehen mehrheitlich Ukrainer in Deutschland, trotz Arbeitswunsch vieler. Geht Söders Beanstandung an der Realität vorbei?

Derzeit wird vor allem über sie gesprochen, aber nicht mit ihnen: Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland. Sie prägen die aktuelle politische Debatte, nachdem CSU-Chef Markus Söder gefordert hatte, allen ukrainischen Flüchtlingen das Bürgergeld zu streichen. Der politische Gegenwind aus Opposition und Teilen der SPD ist groß. Aber auch ukrainische Interessensvertreter kritisieren den bayerischen Ministerpräsidenten.

Ukraine-Kritik an Söder: „Folgt eher politischen Stimmungen als den Realitäten“

„Die jüngsten Aussagen von Herrn Söder bewerten wir als kurzsichtigen Vorschlag, der eher politischen Stimmungen folgt als den Realitäten gerecht wird“, sagte Rostyslav Sukennyk dem Münchner Merkur von IPPEN.MEDIA. Er ist Vorsitzender des Dachverbands der ukrainischen Organisationen in Deutschland, kommt aus der Westukraine, lebt seit 24 Jahren in Deutschland und meint: „Eine pauschale Streichung würde Integration nicht fördern, sondern erschweren.“ Sein Fazit: „Wer Bürgergeld streichen will, ohne über Sprachangebote, Kinderbetreuung, Qualifikationsanerkennung und Integrationsförderung zu sprechen, löst keine Probleme, sondern schafft neue.“

Laut Sukennyk hat „die überwiegende Mehrheit der ukrainischen Schutzsuchenden den Wunsch, schnell unabhängig von staatlichen Leistungen zu werden“. Denn: „Viele erleben den Gang zum Jobcenter als belastend – insbesondere, wenn sie in der Ukraine zuvor selbstständig für sich und ihre Familien sorgen konnten.“

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Söder will streichen: Halbe Million Ukrainer aktuell im Bürgergeld

Fakt ist: Laut der Bundesagentur für Arbeit bezogen im April dieses Jahres 519.000 Ukrainerinnen und Ukrainer Bürgergeld. Das sind etwa 54 Prozent der ukrainischen Staatsangehörigen im erwerbsfähigen Alter, die in Deutschland leben. Mehr als die Hälfte waren sogenannte Aufstocker, also Menschen, die arbeiten und zusätzlich Bürgergeld beziehen, weil das Geld nicht ausreicht. Arbeitslos gemeldet waren im Juli 217.000 Ukrainer.

Heißt im Klartext: Mehr als die Hälfte der Ukrainerinnen und Ukrainer hierzulande beziehen Bürgergeld. Dabei ist die Erwerbsquote bei Ukrainerinnen und Ukrainern seit Kriegsbeginn kontinuierlich gestiegen. Laut Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BIB) arbeiteten im Sommer 2022 nur 16 Prozent der ukrainischen Geflüchteten, im Frühjahr 2024 waren es 30 Prozent – und im vierten Quartal 2024 bereits 43 Prozent. Dass nicht mehr Ukrainerinnen und Ukrainer arbeiten, liegt laut BIB vor allem an Sprachproblemen, die aber zusehends abgebaut werden.

Ähnlich argumentierte jüngst die Bundesagentur für Arbeit. „Viele Ukrainerinnen und Ukrainer besuchen Integrations- und Sprachkurse, und insbesondere für (viele zumeist faktisch alleinerziehenden) Frauen mit kleinen Kindern ist eine Erwerbsaufnahme oftmals schwer realisierbar“, heißt es in einem Bericht von Juli 2025. Alleinerziehende Mütter machen einen Großteil der Ukrainerinnen hierzulande aus.

Kosten für das Bürgergeld

Von den Bürgergeld-Ausgaben gingen 2024 24,7 Milliarden Euro (52,6 Prozent) an Deutsche und 22,2 Milliarden Euro (47,4 Prozent) an Menschen ohne deutschen Pass. Ukrainer stellen dabei die größte Gruppe ausländischer Bezieher dar (6,3 Milliarden Euro).

Nach Söder-Kritik: Ukrainer nennt Grund für hohe Bürgergeld-Quote: „Das erschwert Beschäftigung“

Sukennyk nennt gegenüber unserer Redaktion noch einen weiteren Grund: „Rund 70 Prozent der nach Deutschland geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer verfügen über einen Hochschulabschluss. Doch nicht alle Qualifikationen werden in Deutschland anerkannt.“ Nicht nur bei Ukrainern sind die Genehmigungsverfahren für arbeitswillige Ausländer oft zäh und langwierig. „Das erschwert den Zugang zu qualifikationsgerechter Beschäftigung und führt nicht selten in prekäre Arbeitsverhältnisse“, sagt Sukennyk. Laut Arbeitsagentur hat rund die Hälfte der im Juli 2025 arbeitslos gemeldeten Ukrainerinnen und Ukrainer (106.000) keine oder eine noch nicht anerkannte abgeschlossene Berufsausbildung.

Hinzukommt laut Sukennyk, „dass Frauen mit kleinen Kindern, die häufig allein in Deutschland sind, ohne zusätzliche Betreuung kaum Chancen auf eine Vollzeitbeschäftigung haben“. Auch „eine wachsende Zahl“ an Ukrainerinnen und Ukrainern habe „konkrete Pläne zur Selbstständigkeit“, so Sukennyk. „Hier stehen ihnen jedoch oft bürokratische Hürden im Weg.“ Auch das wiederum ist kein rein ukrainisches Problem. Die Bürokratie in der Selbstständigkeit wird immer wieder kritisiert.

CSU-Vorsitzender Markus Söder spricht im ZDF-Sommerinterview für «Berlin direkt» mit dem Moderator Wulf Schmiese.Weil Deutschland wie „kein Land der Welt“ Bürgergeld an die Ukrainer im Land zahle, würden zuletzt so wenige der Geflüchteten in Deutschland anfangen zu arbeiten, argumentierte Söder. Konkret sagte er im ZDF-Sommerinterview: „Es muss endlich dafür gesorgt werden, dass jeder Arbeit annehmen muss, der arbeiten kann.“ © Sebastian Arlt/dpaSöder-Plan zum Bürgergeld spaltet die Bundesregierung

Kritik an Söders Vorstoß kam auch von der SPD, dem Koalitionspartner der Union. Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Dirk Wiese, erklärte, die Einsparungen würden überschätzt und der bürokratische Aufwand wäre enorm. Auch SPD-Chef und Vizekanzler Lars Klingbeil kritisierte, der Söder-Vorschlag trage nicht dazu bei, „dass wir in der Koalition gemeinsam vorankommen“.

Klingbeil verwies auch auf den Koalitionsvertrag. Darin heißt es auf Seite 69: „Flüchtlinge mit Aufenthaltsrecht nach der Massenzustrom-Richtlinie, die nach dem 01.04.2025 eingereist sind, sollen wieder Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, sofern sie bedürftig sind.“ Heißt also: Kein Bürgergeld auch für neu gekommene Ukrainer, sondern Zahlungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, was wiederum weniger Geld bedeutet (siehe Tabelle).

Alleinerziehend 563 Euro max. 441 Euro Partner innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft 506 Euro max. 397 Euro Erwachsene unter 25 Jahren, die im Elternhaus leben 451 Euro max. 353 Euro Jugendliche zwischen 14 und 17 471 Euro max. 391 Euro Kinder von 6 bis 13 Jahre 390 Euro max. 327 Euro Kinder von 0 bis 5 Jahre 357 Euro max. 299 Euro Quelle: Bundesagentur für Arbeit

Auch aus der Union schlug Söder Kritik entgegen. Der Chef des CDU-Sozialflügels, Dennis Radtke, sprach von „marktschreierischen“ Forderungen. Innerhalb der CDU/CSU gibt es aber auch Zuspruch für Söder. So sprach sich Sachsens Regierungschef Michael Kretschmer für Änderungen aus. Und auch Kanzleramtsminister Thorsten Frei stärkte Söder den Rücken. Man dürfe durchaus über den Koalitionsvertrag „hinausdenken“, sagte er in der ARD. Es scheint, als würde die Bürgergeld-Debatte die Koalition noch einige Zeit beschäftigen. Rostyslav Sukennyk reicht der CSU indes schon einmal die Hand. „Wir stehen gerne für einen offenen, sachlichen Austausch zur Verfügung – auch mit Herrn Söder selbst.“