Von dieser Stadt haben viele geträumt. Gerade im Osten, als Paris für die meisten praktisch unerreichbar war. Es war die wahre Stadt der Träume. Und dieser Traum wurde jedes Mal lebendig, wenn man die großen Sängerinnen und Sänger im Radio hörte: Piaf, Becaud, Aznavour. Dann ging die Seele auf Reisen. So ging es auch Gertraude Clemenz, für die der Fall der Mauer die Erfüllung eines Traums war. Ab da stand Paris jedes Jahr auf ihrem Reiseplan.
Schon 2012 veröffentlichte sie eine große Liebeserklärung an die Stadt ihrer Träume: „Süchtig nach Paris“. Aber schon da durfte man beim Lesen bemerken: Es war nicht das Paris der Postkarten und Sehenswürdigkeiten, jenes überlaufene Paris, in dem alles sich um Eiffelturm und Louvre drängt, als gäbe es in der französischen Hauptstadt nichts anderes zu sehen.
Doch wer im Osten mit der Sehnsucht nach dem Paris der Chansons, der Malerei und der großen Romane aufgewachsen ist, den interessierte etwas völlig anderes. Der wollte die Cafés sehen, in denen Sartre, de Beauvoir und Vian gesessen hatten. Der wollte die kleinen Cabarets und die großen Bühnen sehen, wo die Guilbert, die Gréco, Piaf und Béranger aufgetreten waren. Der wollte den Montmartre besteigen und die Orte sehen, wo die Berühmten einst lebten und malten und schrieben. Der wollte ins Künstlerquartier Montparnasse. Die Orte sehen, an denen der Ruhm dieser Stadt geboren wurde.
Auf der Suche nach dem Chanson
Und genauso reiste Gertraude Clemenz-Kirsch über 30 Jahre lang mit ihrem Mann und ihren Freundinnen jedes Jahr wieder nach Paris, jedes Jahr mit neuen Zielen, neuen Orten, die sie unbedingt sehen wollten. „Auf der Suche nach dem Chanson“, wie eines der Kapitel in diesem Buch betitelt ist. Das ein Buch des Abschieds ist. Denn der Geist ist zwar immer auf Reisen.
Nur der Körper macht irgendwann nicht mehr so mit, wenn er die 80 erreicht. Und wenn dann auch noch das kleine Hotel schließt, in dem man jahrelang stets gastfreundlich untergekommen war, dann wird es noch schwerer. Dann bleibt noch die Sehnsucht. Und ein Berg von Erinnerungen, Fotos und Büchern.
Denn die Autorin war nicht nur – wie sie selbst eingesteht – eine durchaus hartnäckige Reisende, die sich auch in Häuser und Hinterhöfe schummelte, die normalerweise Besuchern versperrt sind. Sie hat sich auch mit all den Frauen und Männern intensiv beschäftigt, die sie in diesem Buch noch einmal auftreten lässt. Berge von Memoiren und Biografien hat sie gelesen.
Sich intensiv mit dem Leben der Picasso, Bruant, Villon und Gertrude Stein beschäftigt. Das ist der Kosmos, dem man in diesem Abschied von Paris begegnet. Einem Kosmos, dem man noch begegnen kann, weil Paris die Orte ihres Auftretens bewahrt hat. Paris vergisst seine Künstler nicht. Anders als etliche deutsche Städte, zu denen auch Leipzig gehört. Dieses Klein-Klein-Paris mit seiner nörgelnden Vergesslichkeit.
Natürlich ist in Paris alles viel größer. Die Stadt hat über Jahrhunderte die klügsten und rebellischsten Köpfe angezogen. Exilanten aller Art. Nicht grundlos blühte hier das Chanson, das sich mit einer einzigen Definition nicht fassen lässt. Weshalb dieses Buch zur Hälfte im Grunde eine Reise durch die große Geschichte des Pariser Chansons ist. Jedes Kapitel verbunden mit einem sehr konkreten Ort in Paris – manchmal heute noch ein Ort des Gesanges, oft nur noch durch eine Tafel am Haus erkennbar.
Aber so wird auch sichtbar, wie die Stadt sich veränderte, wie auch die Orte wanderten, an denen sich neue Generationen von Künstlern heimisch fühlten. Oder wo sie die Miete noch bezahlen konnten. Denn auch Paris ist eine Stadt, die ihre armen Schlucker verdrängt, wo aus billigen Künstlerquartieren teure Eigentumswohnungen werden.
Auch das ein Abschied. Nichts bleibt, wie es war. Und wenn das Geld sich breit macht, verschwinden in der Regel die billigen Absteigen und die verruchten Cafés, wenn sie sich nicht – frisch aufgepeppt – in Nobelrestaurants für zahlungskräftige Touristen verwandeln.
Das Gedächtnis von Paris
Aber letztlich lernt der Leser mit diesem Buch eben doch ein anderes, unverwechselbares Paris kennen, wie es die üblichen Stadtführer nicht zeigen. Eben das weltberühmte Paris der Chansons, der Maler und der Autoren, von denen viele auch auf den berühmten Pariser Friedhöfen ihre letzte Ruhestätte gefunden haben.
Eine Ruhestätte, die nicht bedroht ist von der Einebnung nach 25 Jahren, weil Paris seine Berühmtheiten nicht vergessen will. Oder weil es im Rathaus jemanden gibt, der genau nachfühlen kann, wie sehr sich Menschen in aller Welt wünschen, einmal am Grab der Piaf stehen zu können, einen Stein auf Gertrude Steins Grab legen zu können, Guy de Maupassant, Samuel Beckett oder Susan Sonntag an ihrem Grab zu besuchen.
Voller Dankbarkeit, weil ihre Musik geblieben ist, ihre Bücher, in denen die Zeit bewahrt ist. Und da sich Clemenz-Kirsch intensiv mit der erreichbaren Lektüre über all die von ihr Besuchten beschäftigt hat, entsteht auch ein Geflecht der Beziehungen. Denn natürlich kannten sich die Berühmten, bildeten vertraute Zirkel, trafen sich in den berühmten Cafés.
Auch wenn am Ende doch die persönlichen Schicksale dominieren, Liebe und Verlust. Manchmal aufgehoben in Gedichten, die auch in der DDR in zumeist kongenialen Übersetzungen erschienen, wenn man an Villon und Béranger denkt. Oder in dicken Romanen und Autobiografien. Es war ja nicht so, dass man sie im Osten nicht lesen konnte, was das intellektuelle Leben in Paris bewegte. Sartre und de Beauvoir etwa. Was die Sehnsucht nur zusätzlich befeuerte.
Und mit all dem Wissen und der Sehnsucht nach dieser unvergleichlichen Stadt reiste Clemenz-Kirsch immer wieder nach Paris. Und lässt, was sie erfahren hat, hier lebendig werden, macht nachvollziehbar, wie man mit ungebändigter Neugier den Spuren der Menschen folgen kann, die man aus der Ferne geliebt und verehrt hat. Die Faszination der Stadt an der Seine verblasst nicht. So wenig, wie der Zauber des Chansons verblasst oder der Glanz der Autoren, die in diesem Paris neue Wege beschritten, die Welt und das Leben zu beschreiben. Oder kritisch zu betrachten wie Simone de Beauvoir.
Abschied und Einladung
Das Buch ist im Grunde eine Einladung an alle, die Paris so noch nie betrachtet haben, weil es so in touristischen Stadtführern schlicht nicht erscheint. Als einen Ort, wo man ganz real auf den Wegen von Menschen wandeln kann, die das geistige und künstlerische Leben der Welt im 19. und 20. Jahrhundert nachhaltig beinflusst haben. Bereichert sowieso, beschenkt mit dem Zauber des Immer-Unerwarteten.
Nur zu verständlich, dass Gertraude Clemenz-Kirsch dieser Abschied schwerfällt. Diese Art Zauber erlebt man nirgendwo sonst. Und oft ist es gerade so, als wären die so Berühmten eben noch da gewesen, gerade um die Ecke verschwunden. Und wer sie noch nicht kennt, weil er da noch viel zu jung war, als ihre Lieder im Radio zu hören waren, der wird mit all diesen lebendig geschilderten Fast-Begegnungen regelrecht neugierig gemacht, sich all die Bücher und CDs zu besorgen, mit denen der Zauber dieses zutiefst musischen Paris immer wieder neu zu entdecken ist.
Von den faszinierenden Menschen, die dieses Paris der Musik und der intellektuellen Begegnungen prägten, ganz zu schweigen. Ein Buch als Abschied und Einladung zugleich. Es lohnt sich, auf den Spuren von Gertraude Clemenz-Kirsch durch Paris zu laufen.
Gertraude Clemenz-Kirsch „Au revoir, Paris“, Morio Verlag, Heidelberg 2025, 30 Euro.