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Die Bürgergeld-Debatte spaltet die Politik. In Berlin streitet man über Sanktionen und Missbrauch. Was in den Jobcentern wirklich passiert, will kaum jemand wissen.
Die Diskussion um das Bürgergeld ist festgefahren – und das auf mehreren Ebenen. Während Politikerinnen und Politiker in Berlin mit bekannten Reflexen aufeinander einprügeln, verschärft sich vor Ort die soziale Lage. In vielen Beiträgen dominieren Schlagworte wie „Missbrauch“, „soziale Hängematte“ oder „fehlende Sanktionen“.
Doch wer sich die Realität in Städten wie Duisburg anschaut, erkennt schnell: Die politische Debatte wird von ideologischen Dogmen geführt – und von erschreckender Unkenntnis der tatsächlichen Herausforderungen.
Ein Bericht des Nachrichtenmagazins Der Spiegel gibt einen seltenen Einblick in die Praxis: Frank Böttcher, Geschäftsführer des Jobcenters Duisburg, schildert dort offen und differenziert, mit welchen Problemen seine Behörde und seine Mitarbeiter täglich konfrontiert sind. Die Aussagen des erfahrenen Verwaltungsfachmanns lassen erahnen, wie weit die Wirklichkeit der Bürgergeldbeziehenden von den politischen Debatten entfernt ist – und wie dringend ein realitätsnaher Blick auf das System der Grundsicherung wäre.
Symbolpolitik statt Substanz
Ein besonders bezeichnendes Beispiel für die Realitätsferne der Diskussion ist der Vorstoß von CSU-Chef Markus Söder, ukrainischen Geflüchteten das Bürgergeld zu streichen. Dabei wurde diese Leistung – wie kaum bekannt – bereits zum 1. April 2025 eingestellt. Dennoch sorgt der Vorstoß für Schlagzeilen, Zustimmung in Teilen der Bevölkerung und eine neue Runde im ideologischen Schlagabtausch zwischen Union und Ampelkoalition.
Was bleibt, ist die Auseinandersetzung um ein Thema, das für Millionen Menschen existenziell ist – und zugleich Projektionsfläche für parteipolitische Profilierung. Die Diskussion wird dabei oft auf einzelne Aspekte verengt: Höhe der Leistungen, Sanktionen, Arbeitsverweigerung. Dass das Bürgergeld auch neue Förderinstrumente beinhaltet, wie etwa Coaching-Angebote für Menschen mit komplexen Problemlagen, wird kaum erwähnt. Dabei sind es gerade diese Ansätze, die in Kommunen wie Duisburg dringend gebraucht würden.
Duisburg – Brennpunkt einer überforderten Sozialpolitik
In Duisburg liegt die Arbeitslosenquote bei über 13 Prozent, mehr als 70.000 Menschen leben von Bürgergeld. Viele von ihnen sind schwer vermittelbar: Menschen ohne Ausbildung, mit gesundheitlichen Einschränkungen, mit Sprachbarrieren oder traumatischen Erfahrungen. Die Realität, so Frank Böttcher im Spiegel-Interview, ist oft vielschichtig und lässt sich nicht in einfache Schubladen pressen.
„Auf mich wirkt die Debatte oftmals schwarz-weiß“, sagt Böttcher. „Entweder alle Empfänger haben sich angeblich bequem in der sozialen Hängematte eingerichtet. Oder es heißt, alle seien Opfer eines grausamen kapitalistischen Systems. Beides ist Blödsinn.“
Bezeichnend: Nur rund 40 Prozent der Bürgergeldbeziehenden in Duisburg gelten als arbeitslos. Der Rest ist in Maßnahmen, krankgeschrieben, in Ausbildung oder betreut Angehörige. Dennoch wird die gesamte Gruppe pauschalisiert, als vermeintlich arbeitsunwillig oder leistungsunwillig dargestellt. Böttcher widerspricht: „Die meisten arbeiten gut mit uns zusammen.“ Sanktionen seien kein Massenphänomen, sondern betreffen laut Jobcenter Duisburg weniger als vier Prozent der Fälle.
Die Sanktionsdebatte – politisch laut, praktisch leise
Die politische Debatte wird dominiert von Forderungen nach schärferen Sanktionen. Dabei zeigt sich in der Praxis: Die rechtlichen Hürden sind hoch, die Anwendbarkeit gering. Die Möglichkeit, Bürgergeld bei Arbeitsverweigerung vollständig zu streichen, wurde in Duisburg bisher kein einziges Mal umgesetzt. „Wir brauchen umsetzbare Regelungen“, fordert Böttcher. Er plädiert für ein einfaches, gerichtsfestes Verfahren zur vorläufigen Einstellung der Leistungen bei wiederholter Nichtmitwirkung – mit Wiedereinsetzung bei Kooperation. „Das würde uns wirklich weiterhelfen.“
Die Realität ist jedoch eine andere: Während Politiker mit neuen Verschärfungen Wahlkampf machen, fehlen den Jobcentern die Mittel für konstruktive Maßnahmen. In Duisburg wurde das Budget für Förderprogramme im Jahr 2025 drastisch gekürzt – von 59 auf zwischenzeitlich 39 Millionen Euro. Maßnahmen wie Ein-Euro-Jobs oder Qualifizierungen, die nachweislich helfen, Langzeitarbeitslose zu stabilisieren, fallen dem Rotstift zum Opfer. „Wir sparen an der falschen Stelle“, warnt Böttcher. „Und das wird langfristig teurer.“
Wohnen, Missbrauch, Migration – die verminte Debatte
Ein weiterer Dauerbrenner: die Kosten der Unterkunft. CDU-Chef Friedrich Merz fabulierte jüngst von Bürgergeldhaushalten, die 2000 Euro Miete für 100 Quadratmeter erhielten – durch das Jobcenter. Auch diese Debatte verfehlt die Realität: In Duisburg liegt die Mietobergrenze für Bürgergeldempfänger bei 8,50 Euro pro Quadratmeter. Wer teurer wohnt, muss die Differenz selbst tragen. „Wir fordern konsequent dazu auf, sich günstigeren Wohnraum zu suchen“, so Böttcher. Der Anteil derjenigen, die von dieser Regelung betroffen sind, liegt bei knapp 13 Prozent.
Komplexer wird es beim Thema EU-Zuwanderung und organisierter Missbrauch. In Duisburg gibt es Fälle, bei denen Menschen aus Bulgarien und Rumänien in Minijobs beschäftigt und gleichzeitig in überteuerte Schrottimmobilien gepfercht werden – mit dem Ziel, aufstockendes Bürgergeld zu kassieren. Das Jobcenter ist in vielen Fällen machtlos. „Wir sind eine Sozial-, keine Strafverfolgungsbehörde“, sagt Böttcher. Zwar arbeitet man mit Zoll und Ordnungsamt zusammen, doch das System hat Lücken. „Die Rechtslage lädt zum Missbrauch ein.“
Gleichzeitig warnt Böttcher vor Pauschalurteilen: Die Mehrheit der Zugewanderten arbeite regulär – etwa in Pflegeheimen oder im Reinigungsgewerbe. „In Bereichen, in denen viele Deutsche nicht mehr arbeiten wollen.“
Zwischen Bürokratie und Menschenwürde
Das Bürgergeld wurde mit dem Anspruch eingeführt, mehr Vertrauen, mehr Augenhöhe, mehr Unterstützung zu bieten. Die Praxis zeigt: Vieles davon blieb auf der Strecke. Die Bürokratie ist überwältigend. Leistungsbescheide mit über 100 Seiten sind keine Ausnahme. „Ich wünsche mir weniger kleinteilige Regelungen“, sagt Böttcher. „Die machen das System für alle Beteiligten unnötig kompliziert.“
Auch die Sicherheit in den Jobcentern ist ein Thema geworden. Der Ton sei rauer geworden, so Böttcher. Es habe Drohungen gegeben, einmal wurde Feuer gelegt. „Solche Fälle sind zum Glück selten, aber sie zeigen, wie polarisiert das Thema geworden ist.“
Fazit: Bürgergeld braucht Realpolitik, keine Rhetorik
Das Interview mit Frank Böttcher im SPIEGEL zeigt exemplarisch, wie weit die politische Debatte vom Alltag der sozialen Grundsicherung entfernt ist. Während sich die eine Seite über angeblich zu hohe Leistungen empört und die andere Seite jede Form von Mitwirkungspflicht als Angriff auf die Menschenwürde brandmarkt, kämpfen Jobcenter mit Personalknappheit, Budgetkürzungen und einem immer komplexeren Klientel.
Wenn das Bürgergeld funktionieren soll – als echte Grundsicherung und als Brücke zurück in Arbeit –, dann braucht es keine weiteren ideologischen Grabenkämpfe. Es braucht ein realistisches Bild, eine verlässliche Finanzierung und umsetzbare Regeln. Und es braucht die Bereitschaft, soziale Realität zur Kenntnis zu nehmen – jenseits von Talkshows und Parteitagsreden.
Die große Reform, die nun erneut angekündigt wurde, sollte dabei nicht mit der Frage beginnen, wie man sparen kann. Sondern mit der, wie man Menschen wirklich hilft.