Die Debatte wird vielerorts kontrovers und erhitzt geführt. In Grünheide blieb der Disput aus. Der Europa.Tag, zu dem der Verein „Arbeit an Europa“ seit vier Jahren einlädt, stand diesmal im Zeichen der deutsch-russischen Beziehungen. „Und damit auch der Frage, wie man mit einem Russland nach dem Krieg umgehen wird“, so Simon Strauß, einer der Mitbegründer des Vereins, vor dem Treffen.
Jede und jeder hätten mitdiskutieren können
Die Veranstaltung im Europa.Speicher im uckermärkischen Grünheide ist offen. Jede und jeder kann dabei sein. Menschen aus der Region, Menschen aus der Hauptstadt, von überallher. Dennoch: Am Ende scheint es, als sei man unter sich geblieben. Zumindest so, als hätten die, deren Sicht – und sei es in Nuancen – anders ist, gefehlt oder sich nicht zu Wort gemeldet.
Mit ihnen hatte wohl auch der Historiker und renommierte Osteuropa-Experte Karl Schlögel, kürzlich erst mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, gerechnet. Man hatte ihn, das gehört zu den Traditionen der Veranstaltung, zum Ende des Tages um eine Reflexion gebeten. Ein Resümee nach einer Reihe verschiedener Gespräche und Formate.
Joschka Fischer, der ehemalige Außenminister der Grünen, hatte kurzfristig abgesagt. Ebenso wie der Historiker Jörg Baberowski. Statt Fischer saß die Historikerin und Mitbegründerin der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, Irina Scherbakowa, auf der Bühne und sprach mit Helene Bubrowski, Chefredakteurin von Table.Media.
Das Leugnen von Verantwortung
Hier wie in den Runden zuvor wurde deutlich: eine russische Opposition, sprechend mit einer Stimme, gibt es nicht. Das hatten zuvor auch Iwan Kopalkow, Gründer und Chefredakteur des unabhängigen und aus dem lettischen Exil arbeitenden russischen Nachrichtenportals Meduza, und der aus Russland stammende Schriftsteller Sergej Lebedew gespiegelt. Er gilt als einer der wichtigsten Gegenwartsautoren des Landes. In Grünheide stellte er erstmals die gerade erst erschienene deutsche Übersetzung seines Romans „Die Beschützerin“ vor. Im Gespräch mit Autorin Manuela Reichart spricht er über eines der zentralen Themen seines Buches: die nicht aufgearbeitete totalitäre Geschichte Russlands, das Leugnen von Verantwortung.
Im Gespräch mit der Autorin Manuela Reichardt stellte Sergej Lebedew sein Buch „Die Beschützerin“ vor, das jüngst erst in deutscher Sprache erschien. Abwechselnd in russischer und deutscher Sprache lasen Lebedew und Reichart anschließend Passagen aus dem Roman. (Foto: Lisa Martin)
Als Karl Schlögel ans Pult tritt, um seinen Blick auf die Veranstaltung zusammenzufassen, erzählt er von einem Text von Sergej Gerassimow, der in seinem Kriegstagebuch den Krieg in der Ukraine in all seiner blanken Entsetzlichkeit beschreibt. Schlögel hatte den Text einstecken, wollte ihn eigentlich vorlesen. Er hatte befürchtet, dass die Tragweite dessen, was dieser Krieg bedeutet, wie er ist, in Grünheide nicht ausreichend beschrieben würde.
Eine Sprache für die Welt, in der wir leben
Die zurückliegenden Stunden jedoch hätten gezeigt, dass man sich dessen bewusst sei. „Wir müssen eine Sprache finden für die Welt, in der wir leben“, sagt Schlögel und spricht von Gleichgültigkeit versus Panik und Hysterie; von der Notwendigkeit des Standhaltens und davon, dass man erst noch am Anfang sei. Er spricht von einer kriegsverschonten, friedensgewohnten und friedensverwöhnten Gesellschaft Westeuropas; von einer Stresssituation, die niemanden unberührt lassen wird und von der Notwendigkeit, sich aufzustellen, wachsam zu sein.
Der Osteuropa-Experte Karl Schlögel fasste die Veranstaltung zusammen. Sein Fazit: Wir müssen auf alles gefasst sein. (Foto: Lisa Martin)
„Die Geschichte ist offen“, sagt er und wird deutlich mit den Worten: „Wir müssen auf alles gefasst sein“, uns auf Zumutungen einstellen. Fast unwirklich scheint danach die abendliche Idylle vor dem Feldsteinspeicher, wo man sich an einer langen Tafel zum Essen im Abendlicht zusammensetzt. Es ist ein Kontrast. Wie es womöglich einer hätte sein können, wenn hier noch andere Stimmen zu Gehör gekommen wären. Ansätze gab es in jenem Panel, bei dem der Historiker Bastian Matteo Scianna, der CDU-Bundestagsabgeordnete David Gregosz, der Grünen-Europaabgeordnete Sergej Lagodinsky und die SPD-Politikerin Marie Glißmann mit Nora Sefa von „Arbeit an Europa“ sprachen.
„Arbeit an Europa“ wichtiger denn je
Für das Thema der Gestaltung des Verhältnisses von Deutschland und Europa zu Russland und eine Neuordnung der europäisch-russischen Beziehungen war jedoch die Zeit zu kurz, als dass es in die Tiefe hätte gehen können. Eines jedoch wurde an diesem Samstag in Grünheide deutlich: Die „Arbeit an Europa“, der sich der gleichnamige Verein widmet, ist wichtiger und aktueller denn je.
In verschiedenen Runden wurde im Europa.Speicher miteinander gesprochen. Vor allem kritische Stimmen aus Russland kamen hier zu Wort. (Foto: Lisa Martin)
Dabei geht es jedoch nicht nur um den intellektuellen Austausch, sondern auch um das gemeinsame Tun. So hatten sich hier in den Tagen zuvor bereits junge Menschen aus Polen und Deutschland getroffen, um gemeinsam praktisch tätig zu werden. „Man baut zusammen und man redet zusammen. Die Kooperation mit der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Toruń pflegen wir bereits seit einigen Jahren“, so Simon Strauß. Gefördert wurde diese in mehrfacher Hinsicht produktive Begegnung durch die Sanddorf-Stiftung, die sich der Völkerverständigung widmet. Der Europa.Tag wurde gefördert vom Ministerium der Finanzen und für Europa des Landes Brandenburg.