Das OVG Münster hat kürzlich eine für Steuerberater sehr wichtige Entscheidung getroffen. Sie betrifft auf den ersten Blick „nur“ ein chaotisches Antragsverfahren bei der Überbrückungshilfe IV und ein Klageverfahren auf Zahlung der Überbrückungshilfe IV. 

Die

Entscheidung des OVG Münster v. 1.7.2025, 4 A 2468/24, enthält allerdings auch eine dramatische Aussage zum EU-Beihilferecht, nach der

  • alle noch offenen Antragsverfahren/Klageverfahren, die auf die Gewährung von Überbrückungshilfen gerichtet sind, gefährdet sind und
  • alle Überbrückungshilfen IV, die nach dem 30.6.2022 durch Bewilligungsstellen gewährt worden sind, selbst dann auf der Kippe stehen, wenn vorläufige Bescheide vorlagen und
  • alle Nachzahlungen bei den Schlussabrechnungen möglicherweise in Frage gestellt werden.

Droht nun eine neue Rückforderungswelle?

Die Entscheidung ist in vielen Punkten falsch und oberflächlich. Sie betrifft nur das Bundesland Nordrhein-Westfalen und lässt viele Interpretationsspielräume offen. Es besteht kein Grund zur Panik. Aber diese Entscheidung müssen prüfende Dritte kennen. An dem Verfahren waren wir nicht beteiligt.

Der besondere Fall: Wenn der Steuerberater versagt

Das OVG Münster hatte über einen Fall zu entscheiden, der durch mehrfaches Versagen des prüfenden Dritten (Steuerberater) im Antragsverfahren der Überbrückungshilfe IV geprägt war. Die Besonderheiten:

  • Der Steuerberater konnte angeblich über ein Jahr lang nicht auf das Antragsportal zugreifen.
  •  Selbst nach Wiederherstellung des Zugangs im September 2023 blieb er untätig.
  • Das Gericht sah hierin ein klares Mitverschulden: Der Steuerberater hätte spätestens ab September 2023 die geforderten Unterlagen nachreichen können.

Schon von daher lehnte das Gericht die Klage, die auf Gewährung von Überbrückungshilfe IV gerichtet war, ab.

Allerdings arbeitete das Gericht auch hier sehr oberflächlich: In der Entscheidung wird dem Antragsteller vorgeworfen, er habe entgegen der Bestimmung im Bescheid über die Abschlagszahlung bis 31.12.2022 keine Schlussabrechnung eingereicht. Der Vorwurf wird mehrfach wiederholt. Der Vorwurf ist hanebüchen: Wie jeder weiß, lief die Frist auch ohne Antrag auf Fristverlängerung mindestens bis 31.10.2023. Zudem war es technisch unmöglich, eine Schlussabrechnung ohne endgültigen Bescheid einzureichen. Das Gericht berücksichtigt hier nicht die Besonderheiten der Überbrückungshilfe IV. Offenbar wurden diese Punkte nicht vorgetragen.

Die Bombe: EU-Beihilferecht schlägt zu

Doch dann kommt die eigentliche Sprengkraft der Entscheidung: Das OVG stellt grundsätzlich fest, dass jede Bewilligung einer Überbrückungshilfe IV nach dem 30.6.2022 gegen EU-Recht verstößt – es sei denn, der Antragsteller hatte bereits vor diesem Datum einen „sicheren Rechtsanspruch“ erworben. Das ist offenbar der Fall, wenn er alle Unterlagen, die zur Entscheidung notwendig waren, vorher eingereicht hatte.

Hintergrund: Der „Befristete Rahmen“ der EU-Kommission für Corona-Beihilfen lief am 30.6.2022 aus. Die Bundesregelung Kleinbeihilfen trat zeitgleich außer Kraft.

Unerheblich sei zudem, dass dem Antragsteller mit Bescheid vom 16.6.2022 eine Überbrü-ckungshilfe IV dem Grunde nach gewährt worden sei. Die Bewilligungsstelle hätte nach dem 30.6.2022 keine Überbrückungshilfe IV mehr final gewähren dürfen, weil das EU-Beihilferecht dem deutschen Recht vorgeht.

Was bedeutet das konkret?

Für laufende Antragsverfahren in NRW:

  •  Anträge, die nach dem 30.6.2022 noch nicht endgültig bewilligt waren, dürften keine Chance mehr haben – es sei denn, es wird nachgewiesen, dass zuvor ein „sicherer Rechtsanspruch“ bestand. Da kommt wieder viel Arbeit auf Steuerberater und Anwälte zu.
  • Selbst vorläufige Bewilligungen vor dem Stichtag helfen nicht automatisch.

Für bereits gewährte Überbrückungshilfen:

Wenn man die Entscheidung des OVG NRW „ernst“ nimmt, kann dies auch folgendes bedeuten (Achtung – das ist völlig unklar):

  • Alle Bewilligungen nach dem 30.6.2022 stehen auf der Kippe.
  • Bewilligungsstellen könnten gezwungen sein, alle Überbrückungshilfen IV, die nach dem 30.6.2022 gewährt sind, zurückzufordern, wenn die Antragsteller und prüfenden Dritten nicht nachweisen können, dass vor dem 30.6.2022 ein „sicherer Anspruch“ bestand.
  • Betroffen wären tausende Unternehmen, die ihre Hilfen erst nach dem Stichtag erhielten.
  • Das Ganze betrifft natürlich auch alle anderen Überbrückungshilfen sowie November- und Dezemberhilfen, sofern sie nach dem 30.6.2022 gewährt worden sind.

Ob diese Folgen eintreten, ist ungewiss. In jedem Fall entsteht ein massives Rechtsrisiko jedenfalls in NRW.

Nachzahlungen gefährdet?

Damit stellt sich auch die Frage, ob Nachzahlungen gefährdet sind. Denn diese werden in dieser Logik auch „nach“ dem 30.6.2022 gewährt.

Allerdings dürfte hier wohl auch nach der Logik des OVG zu argumentieren sein, dass die Bewilligungen an sich (mithin das Antragsverfahren) vor dem 30.6.2022 erfolgte, so dass die Nachzahlungen als lediglich rechnerische Größe nicht gefährdet sind.

Aber: Nichts Genaues weiß man nicht. Es kann sein, dass die Bewilligungsstellen das Thema aufgreifen.

Die große Unbekannte: Was ist ein „sicherer Rechtsanspruch“?

Das Gericht lässt offen, wann genau ein solcher Anspruch vorliegt. Mögliche Interpretationen:

  • Vollständige Antragsunterlagen vor dem 30.6.2022?
  • Positive Prüfung durch den prüfenden Dritten?
  • Vorläufige Bewilligung mit allen Voraussetzungen erfüllt?

Diese Unklarheit wird uns alle beschäftigen.

Kritische Einschätzung

Die Entscheidung ist aus mehreren Gründen evident falsch:

  1. Realitätsfern: Die Bewilligungsstellen haben noch Jahre nach dem Stichtag Überbrückungshilfen ausgezahlt – im Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit.
  2. Keine Kenntnis vom Schlussabrechnungsverfahren: Das Gericht kennt offenbar das Schlussabrechnungsverfahren nicht, wenn es auf den 31.12.2022 verweist als Stichtag für Schlussabrechnungen. Es galten längst andere Stichtage.
  3. Beihilferecht oft nicht anwendbar: Im Gegensatz zu dem, was die Verwaltungsge-richte oft glauben, gilt das EU-Beihilferecht bei weitem nicht für alle Subventionen, die die Bundesländer/die Bundesrepublik Deutschland gewähren. Eine Subvention wird erst dann EU-Beihilferechtswidrig, wenn sie potenziell zu einer Verfälschung des Wett-bewerbs auf dem gemeinsamen Markt führt. Wenn jemand ein Restaurant in Hamburg betreibt, verfälscht er nicht den Wettbewerb mit Paris oder Rom. In der Entscheidung ging es offenbar um weniger als 25.000 EUR. Eine solche Subvention kann den gemeinsamen Markt nicht verfälschen. 
  4. Vorläufige Gewährungen: Aus beihilferechtlicher Sicht sind die vorläufigen Gewährungen „dem Grunde nach“, die im Juni 2022 verschickt worden sind, genau erfolgt, um den Anspruch auf Überbrückungshilfe abzusichern – sicher auch in Absprache mit der Kommission. Hier fehlte es offenbar im Verfahren an entsprechenden Beweisanträgen. 
  5. Vertrauensschutz missachtet: Unternehmen, die Hilfen nach dem 30.6.2022 erhalten haben, können sich auf Vertrauensschutz berufen.

Daher: Es gibt viele Angriffspunkte gegen die Entscheidung. Steuerberater müssen diese kennen. Dennoch ist völlig offen, ob Verwaltungsgerichte anderer Bundesländer dieser Entscheidung folgen.

Hinweis: Es ist bei Verfassen dieses Beitrags nicht bekannt, ob die Entscheidung rechtskräftig ist. Angesichts des vergleichsweise geringen Streitwerts wagen die Autoren zu bezweifeln, dass der Kläger eine höhe Instanz, hier wohl der EuGH, anruft.

Weitere Beiträge aus dieser Serie: