Der Schritt markiert eine dramatische Wende und dürfte die Kämpfe um Monate oder Jahre verlängern. Gleichzeitig ist unklar, ob Israel mit einer Okkupation seine Ziele erreichen kann. Experten warnen vor schwerwiegenden Folgen.
Ein israelischer Panzer fährt durch die Ruinen des Gazastreifens: Bald dürften die militärischen Operationen massiv ausgeweitet werden.
Amir Cohen / Reuters
Es ist eine Weichenstellung im Gazakrieg, die weitreichende Folgen haben wird: Am Donnerstag hat Israels Ministerpräsident gegenüber dem amerikanischen Fernsehsender Fox News erklärt, dass Israel den gesamten Gazastreifen besetzen werde. Es ist ein Szenario, das er zuvor stets kategorisch ausgeschlossen hatte. Nach der Beseitigung der Hamas werde Israel dann die Verwaltung des Gebiets an nicht näher genannte «arabische Kräfte» übergeben. «Wir wollen nur einen Sicherheitsbereich. Wir wollen den Gazastreifen nicht regieren.»
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Kurz darauf, um 18 Uhr Ortszeit, berief Netanyahu sein Sicherheitskabinett zusammen, um den offiziellen Beschluss zu fassen. Bislang ist dieser noch nicht erfolgt. In den vergangenen Tagen war durchgesickert, dass sich der israelische Armeechef Eyal Zamir und womöglich auch der Aussenminister Gideon Saar gegen eine Besetzung aussprechen. Aber laut Medienberichten unterstützt dennoch eine deutliche Mehrheit der Minister im Sicherheitskabinett Netanyahus Plan.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu.
PD
Konkret bedeutet die Ankündigung, dass Israel in einem ersten Schritt die Kämpfe im Gazastreifen wohl massiv ausweiten wird. Die Armee wird in Gebiete vordringen müssen, in denen sie bislang noch nicht gekämpft hatte – und in denen sich die Mehrheit der 2,2 Millionen Bewohner des Gazastreifens sowie Tausende Hamas-Kämpfer befinden. Diese Vorstösse werden weitere palästinensische Zivilisten, israelische Soldaten und wohl auch Geiseln das Leben kosten. Nicht zuletzt dürfte dieser Schritt Israel international weiter isolieren.
Experte warnt vor immensen Kosten
Gleichzeitig ist fraglich, ob Israel mit einer erneuten Ausweitung der Kämpfe und einer vollständigen Besetzung des Gazastreifens seine Ziele tatsächlich erreichen kann. Israelische Sicherheitsexperten schätzen, dass die Beseitigung der Hamas, die mit Guerilla-Methoden operiert, im Rahmen einer Besetzung ein bis zwei Jahre in Anspruch nehmen dürfte. Schon im Mai hatte Israel die grossangelegte Operation «Gideons Streitwagen» lanciert, mit dem erklärten Ziel, die Hamas endgültig zu vernichten. Nun kontrolliert die israelische Armee zwar wie geplant 75 Prozent der Küstenenklave. Doch die Terrororganisation hat weder ihrer Entwaffnung zugestimmt noch die israelischen Geiseln freigelassen.
Manche Analysten spekulieren, dass Netanyahu mit der Ankündigung einer Besetzung in erster Linie den Druck auf die Hamas erhöhen will, einer Waffenruhe zu Israels Bedingungen zuzustimmen. Das werde nicht funktionieren, sagt Michael Milshtein, der ehemalige Leiter der Palästinenser-Abteilung des israelischen Militärgeheimdiensts. «Seit 22 Monaten hängt die Regierung der Illusion an, dass die Hamas irgendwann unter dem militärischen Druck einknicken wird», sagt er. «Sie versteht nicht, dass die Hamas bereit ist, Suizid zu begehen. Die Hamas ist bereit, ganz Gaza zu zerstören und die Geiseln zu töten.»
Zwar sei es militärisch gesehen durchaus möglich, die Hamas im Rahmen einer Besetzung irgendwann zu besiegen. Aber damit treibe Israel die schädlichste aller Optionen voran, sagt Milshtein. Israel werde Milliarden in die Versorgung der 2,2 Millionen Palästinenser investieren sowie erneut Zehntausende Reservesoldaten aufbieten müssen, um das Gebiet zu kontrollieren. Und für die Beziehungen zu den arabischen Staaten werde eine Okkupation schwerwiegende Folgen haben. «Von einer Normalisierung mit Saudiarabien können wir wohl nur noch träumen.» Netanyahus Ankündigung, dass arabische Kräfte die Kontrolle über Gaza übernehmen würden, bezeichnet Milshtein als «Wunschdenken».
Trump stützt Israel
In weiten Teilen der Welt haben Israels drastische Gaza-Pläne Empörung hervorgerufen. Der niederländische Aussenminister Caspar Veldkamp kündigte am Donnerstag an, nun die Suspendierung der Handelskomponente im Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Israel voranzutreiben. Der britische Botschafter in Israel warnte Israel vor einem «schweren Fehler»: Israel könne im Gazastreifen nichts mehr erreichen.
Von seinem wichtigsten Verbündeten, Donald Trump, muss Netanyahu allerdings wohl keinen Widerstand befürchten. Angesprochen auf eine mögliche Besetzung des Gazastreifens, hatte der amerikanische Präsident schon am Dienstag gesagt: «Das wird weitgehend Israels Entscheidung sein.» Vielmehr scheinen die USA Israels Pläne mit einer humanitären Komponente unterstützen zu wollen: Am Donnerstag verkündete der amerikanische Botschafter in Israel, Mike Huckabee, dass die Anzahl der Verteilzentren der umstrittenen Gaza Humanitarian Foundation (GHF) von derzeit vier auf 16 erhöht werden solle. Der Erfolg dieser Strategie hänge auch von den Operationen der israelischen Armee ab, sagte Huckabee.
Schon am Mittwoch hatte Israels rechtsextremer Finanzminister Bezalel Smotrich bekanntgegeben, dass er drei Milliarden Schekel (rund 700 Millionen Franken) für Hilfsgüter zur Verfügung stellen werde. Zuvor hatte Israel stets bestritten, die humanitäre Hilfe für Gaza zu finanzieren – auch deshalb, weil es weite Teile der israelischen Bevölkerung ablehnen, Steuergelder für die Versorgung der Palästinenser einzusetzen. Mit einer Besetzung des Gazastreifens wird sich dies aber nicht mehr vermeiden lassen.
Die Angehörigen der israelischen Geiseln im Gazastreifen reagieren derweil mit Entsetzen auf die Ankündigung einer Okkupation – sie fürchten, dass die bevorstehenden Kämpfe das Leben der Verschleppten kosten könnten. «Netanyahu und seine Partner werden meinen Sohn zum Tod verurteilen», sagte Einav Zangauker, die Mutter von Matan Zangauker. Das Forum der Geiselfamilien rief den Armeechef in einer Mitteilung dazu auf, standhaft zu bleiben: «Stimmen Sie nicht zu, unsere Liebsten zu gefährden.»