Das muss eine klassische Bronzestatue sein, die die Place du Bouffay schmückt, einen Platz im ältesten Viertel von Nantes. Ein Mann im Anzug steht breitbeinig auf einem Sockel und blickt ernst in die Ferne. So weit, so normal – doch Moment, sein rechtes Bein schwebt ja in der Luft! Nur das linke ruht auf dem Sockel, auf dem kein Name prangt, nur ein Titel: „Éloge du pas de côté“, was so viel bedeutet wie: „Lobrede auf den Schritt zur Seite“. Gemeint ist der Mut, die Dinge anders zu machen als gewohnt oder erwartet. „Der Künstler, Philippe Ramette, spielt hier mit den klassischen Normen einer Skulptur, um eine Hommage an die Originalität der Stadt zu machen, die sich immer wieder neu erfindet“, erklärt die Stadtführerin Aurélie Patural beim Spaziergang.
Nantes ist die Geburtsstadt von Jules Verne
Das tut die 750.000 Einwohner zählende westfranzösische Stadt auch mithilfe der Kunst. Skulpturen, Installationen und Graffitis durchziehen sie und ermöglichen, so Patural, „einen anderen oder neuen Blick auf das, was uns umgibt“. In Frankreich hat die Geburtsstadt von Jules Verne, dem Autor von Abenteuerromanen, das Image einer dynamischen, grünen Regionalmetropole. Das Zentrum ist weitgehend verkehrsberuhigt, öffentliche Verkehrsmittel sind am Wochenende gratis. Die Stadt verzeichnet ein stetiges Wachstum und landet bei nationalen Rankings zur Wohnqualität auf den ersten Plätzen. Auch in Sachen Tourismus legt sie zu.
Seit 2011 organisiert sie im Juli und August das Freiluft-Kunstfestival „Le Voyage à Nantes“, „Die Reise nach Nantes“. Kunstschaffende aus der ganzen Welt präsentieren rund 120 Werke auf Plätzen, an Straßen, Säulen, in Gärten und Parks. Eine grellgrüne Linie auf dem Boden, knapp 20 Kilometer lang, führt zu ihnen, ermöglicht Flaneuren eine Entdeckungstour. Manche bleiben dauerhaft, so wie Philippe Ramettes Selbstporträt aus dem Jahr 2018 und eine weitere Skulptur von ihm im Cours Cambronne, einem gepflegten Park, den neoklassische Gebäude umrahmen. Gegenüber einer historischen Statue von Pierre Cambronne, einem General unter Napoleon, steht die Abbildung eines Mädchens, das einen Sockel hinauf- oder hinunterklettert. Es ist barfuß, in Bewegung – ein totaler Gegensatz zum steifen Militärangehörigen. „Éloge à la transgression“, also „Lobrede auf das Überschreiten von Regeln“, nannte Ramette sein Werk.
Die Lust zu überraschen wird in Nantes an vielen Stellen sichtbar, ob an einem „Basketball-Baum“ mit etlichen Körben, einem Trampolin in Mond-Form oder an einem überdimensionierten Metermaß von Lilian Bourgeat, das sich durch den Garten vor einem früheren Architektenbüro zieht. Auf der altehrwürdigen Place Graslin, umrahmt von schicken Bistros und gegenüber der Oper, hat die Künstlerin Prune Nourry übergangsweise eine riesige Metallskulptur geschaffen, deren Form wie ein umgedrehter Schiffsrumpf aussieht und damit an den Hafen von Nantes anspielt, der der 60 Kilometer vom Atlantik entfernten Stadt zum wirtschaftlichen Aufstieg verhalf. Tatsächlich stellt das Werk eine im Wasser liegende Schwangere dar, in deren runden Bauch Besucher zwischen den Beinen „eintreten“ können.
Kunst wird in Nantes in den Alltag geholt
„Le Voyage à Nantes“ hole Kunst in den Alltag, sagt Aurélie Patural. „Wer ins Museum geht, stellt sich darauf ein, aber wer beim Einkaufen oder Ausgehen darauf stößt, fragt sich: Was ist das für ein Ding? Gefällt es mir oder nicht?“ Genau diese Fragen, das Anregen von Debatten sei die Absicht von Künstlern. Kulturvermittler stehen am Platz, um auf sie einzugehen, mit Passanten ins Gespräch zu kommen.
In Nantes steht eine der schönsten Einkaufs-Galerien Europas
Die liegende Schwangere führte ihnen zufolge zu keinerlei empörtem Aufschrei, obwohl sie sich in einem noblen Stadtteil befindet, dem nach einem reichen Finanzier benannten Graslin-Viertel mit seinen eleganten Geschäftsstraßen, Cafés und Restaurants. Hier steht die dreistöckige Einkaufs-Galerie „Passage Pommeraye“, die mit ihrer prachtvoll verzierten Treppe, dem Glasdach und den Marmorböden als eine der schönsten Europas gilt.
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Nantes in Westfrankreich war einmal die Hauptstadt der Bretagne. Kulinarisch merkt man das noch.
Foto: altitudedrone – stock.adobe.com
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Nantes in Westfrankreich war einmal die Hauptstadt der Bretagne. Kulinarisch merkt man das noch.
Foto: altitudedrone – stock.adobe.com
Ein paar Schritte weiter schließt sich das Bouffay-Viertel an, das älteste der Stadt, geprägt von Fachwerkhäusern und mittelalterlichen Straßen, in denen sich viele Crêperien befinden. Süße Crêpes und pikante Galettes aus Buchweizenmehl gelten als typische Gerichte der Bretagne, deren Hauptstadt Nantes bis zum 16. Jahrhundert war. Die Pariser Zentralmacht trennte sie 1956 im Zuge einer Neuaufteilung der Regionen endgültig von der stolzen, wirtschaftsstarken Region, um Unabhängigkeitsbestrebungen entgegenzuwirken. Die Frage, ob Nantes trotzdem „eigentlich“ bretonisch sei, ist kontrovers geblieben. Die allgegenwärtigen Crêpes, gebacken mit der für die Bretagne unverzichtbaren Salzbutter, geben zumindest in kulinarischer Hinsicht eine Antwort. Wissenschaftlichere Informationen zur Historie der Stadt finden sich im Schloss der Herzöge der Bretagne (Château des Ducs de Bretagne), einer weitläufigen, stark befestigten Anlage. Heute ist es ein Museum.
Nantes hat sich in den letzten Jahren neu erfunden
Wie sehr sich diese Geschichte in den letzten Jahrzehnten wandelte und mit welcher Kreativität sich die Stadt neu erfand, zeigt ein Gang auf die „Insel von Nantes“, umschlossen von zwei Armen der Loire. Lange handelte es sich um eines der größten Industriegebiete Europas, spezialisiert auf den Schiffsbau. Nach der kompletten Schließung durch die Verlagerung dieser Aktivitäten 1987 leitete der langjährige Bürgermeister und spätere sozialistische Premierminister Jean-Marc Ayrault eine spektakuläre Transformation ein.
Wissenswertes über Nantes
Anreise: Die Zugverbindungen führen alle über Paris. Bahnreisende aus dem Süden Deutschlands sind nach Nantes mindestens acht Stunden unterwegs. Autofahrer etwa zwölf Stunden.
Unbedingt sehen: Aktuell läuft das Kunstfestival „voyages de Nantes“ bis 31. August. Tickets für die Les Machines de l’île gibt es ab 12 Euro: www.lesmachines-nantes.fr
Info: Das Tourismusbüro hat eine Website auf deutsch: www.levoyageanantes.fr/en/willkommen-in-nantes/
Auf der ehemaligen Industriefläche schuf er Parks, Galerien, Restaurants und eine neue Touristenattraktion in drei Teilen: Die „Maschinen der Insel“ bestehen aus nachgebauten Insekten und Vögeln in Übergröße, die mechanisch bewegt werden können; in einem 25 Meter hohen Karussell auf drei Ebenen besteigen Besucher Gondeln in Form von U-Booten, Muscheln oder Quallen; ein riesiger Elefant aus Holz und Metall geht am Loire-Ufer entlang, Besucher auf seinem Rücken tragend, er trompetet und verspritzt Wasser. Durch diesen Publikumsmagneten kam neues Leben in und um die einstigen Schiffswerften. Ein großer Kran erinnert noch an die industrielle Vergangenheit, die so lange die Identität der Arbeiterstadt prägte.
Am Ufer der Loire befindet sich eine weitere Errungenschaft, die auf Ayrault zurückgeht. Sie zeigt sich zunächst in Form von 2000 Glasplaketten im Boden, welche an die rund 1700 Schiffe erinnern, die ab Ende des 17. Jahrhunderts zwischen Nantes, Afrika und Amerika unterwegs waren, um Sklaven zu transportieren und gegen Handelsware zu tauschen. Treppen führen hinunter in eine unterirdische Passage, die zum Wasser hin offen ist. „Freiheit“ steht in 47 Sprachen an den Wänden, neben Erklärtafeln und Zitaten von Freiheitskämpfern. „Die Tatsache, dass der Reichtum der Stadt und ihr Aufstieg als Handelsmetropole auf den Sklavenhandel zurückgeht, war lange tabu“, erklärt Anna Schwarzbard, Kunsthistorikerin und Stadtführerin.
„Erst seit 2012 erinnert dieses Mahnmal an die systematische Ausbeutung von Millionen von Afrikanern in Übersee-Plantagen.“ Von allen französischen Hafenstädten hatte Nantes den größten Anteil am sogenannten Atlantischen Dreieckshandel, durch den exotische Produkte nach Europa kamen: Kaffee, Kakao, Rohrzucker, Rum oder Baumwolle. „In der Folge entstand eine ganze Industrie zu deren Weiterverarbeitung, ob Keks-Manufakturen oder Kaffee-Röstereien“, so Schwarzbard. Viele der Fabriken wurden im Zuge der Desindustrialisierung ausgelagert – oder umgebaut. So entstand aus der einstigen Produktionsstätte des Biskuit-Herstellers LU das kulturelle Zentrum „Lieu Unique“ mit Ausstellungen, Konzerten, Coworking-Büros. Es ist einer dieser „einzigartigen Orte“, von denen Nantes viele ansammelt, um überraschend zu bleiben.
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Birgit Holzer
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