Der Oberste Gerichtshof Großbritanniens hat in einem spektakulären Urteil vom 29. Juli 2025 die Revision des britischen Staatsbürgers Jewgeni Schwidler zurückgewiesen; Schwidler hatte gegen seine Sanktionierung durch den britischen Staat geklagt. Dem in Russland geborenen und in den USA lebenden Schwidler wird persönliche wie wirtschaftliche Nähe zu dem sanktionierten russisch-israelischen Unternehmer Roman Abramowitsch vorgeworfen. Schwidler war bis März 2022 langjähriger Manager und Partner in verschiedenen von Abramowitsch kontrollierten Unternehmen, u.a. dem Rohstoffkonzern Evraz.

Das Gericht argumentierte, dass Schwidler seine persönliche Nähe zu Abramowitsch nicht genug genutzt hätte. Denn Abramowitsch wiederum hätte Einfluss auf die russische Administration, insbesondere auf dessen Präsidenten Putin nehmen können, um die Aggression gegen die Ukraine zu stoppen.

Der Revisionsantrag der Anwälte Schwidlers wurde mit vier Richter-Stimmen zurückgewiesen, ein Mitglied des Richtergremiums sprach sich für die Aufhebung der Sanktionen aus, blieb jedoch in der Minderheit.

Sein britischer Pass konnte ihm nicht helfen: Gerichte in England haben den Geschäftsmann Jewgeni Schwidler sanktioniert.

Sein britischer Pass konnte ihm nicht helfen: Gerichte in England haben den Geschäftsmann Jewgeni Schwidler sanktioniert.Guardia /Eyevine

Missachtung der tradierten Normen

Spektakulär an diesem Urteil ist, dass mit Zustimmung seiner vier Richterkollegen die abweichende Rechtsposition des Richters Lord George Leggatt veröffentlicht wurde. Das zweite seiner drei wichtigsten Argumente sei hier dokumentiert: „Zweitens hat das Argument, es sei angemessen, Herrn Schwidler zu bestrafen, um ihn zu ermutigen, sich ‚entschiedener‘ gegen die Invasion Russlands in der Ukraine auszusprechen, einen unheimlichen Beigeschmack. Es impliziert, dass es in einer Demokratie legitim ist, dass die Exekutive das Vermögen einer Person einfriert, um Druck auf diese Person auszuüben, sich für die Politik der Regierung auszusprechen. Ein solcher Orwellscher Ansatz sollte abgelehnt werden. Er versucht, die Beeinträchtigung von Eigentumsrechten damit zu rechtfertigen, dass diese Beeinträchtigung zur Einschränkung der Meinungsfreiheit genutzt werden kann.“

Die Zusammenfassung seiner Argumente durch Lord Leggatt liest sich ebenso interessant und sollte der deutschen Öffentlichkeit wenigstens in Auszügen nicht vorenthalten werden: „Ich habe … die verheerenden Auswirkungen dargelegt, die die unbefristete Entziehung des Zugangs zu seinen eigenen Geldern und anderen wirtschaftlichen Ressourcen weltweit … für Herrn Schwidler und seine Familie haben. … Maßnahmen zum Einfrieren von Vermögenswerten greifen … den Kern seines Rechts auf ein selbstbestimmtes Leben an. Ich bin nicht der Ansicht, dass die von der Regierung angeführten Gründe eine derart drastische Einschränkung seiner Freiheit auch nur annähernd rechtfertigen. Die Beschränkungen sind ungerecht und stehen in keinem Verhältnis zu dem Beitrag, den sie vernünftigerweise zur Erreichung der Ziele (Stopp der Kriegshandlungen in der Ukraine) … leisten können. Auch wenn ich damit allein stehe, missbillige ich die Entziehung grundlegender Freiheiten, auf die Herr Schwidler als Bürger dieses Landes Anspruch hat.“ 

Damit beweist Richter Lord Leggatt, ordentliches Mitglied des britischen Supreme Courts, dass abseits ideologischer, häufig genug politisch motivierter Strafmaßnahmen kompetenter Widerspruch möglich ist. Auch und insbesondere in Fällen gegen Vermögende mit mehrheitlich russischen Wurzeln, gegen die unter Missachtung der tradierten Normen vorgegangen wird.

Die Wiedereinführung der Kollektivschuld

Das westeuropäische, auch in der deutschen Rechtspraxis mehr und mehr fragwürdige Vorgehen wird sich früher oder später gegen uns selbst richten. Werte und Grundlagen freiheitlicher Demokratien sind die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit von Gerichten sowie diverse Freiheiten. Diese Grundlagen im Kampf gegen die russische Expansionspolitik erodieren zu lassen, bis hin zur offensichtlichen Aufgabe elementarster Prinzipien der Europäischen Union, entfernt uns von den rechtsstaatlichen Prinzipien Europas.

Zum einen wird das eherne Prinzip der Individualschuld negiert. Das Strafrecht moderner Demokratien geht grundsätzlich von individuellen Verantwortlichkeiten aus, sodass Kollektivschuld juristisch nicht relevant sein darf.

Nach rechtsstaatlichen Grundsätzen haftet ein Staatsbürger nicht für die Handlungen seines Staates, es sei denn, es gibt eine konkrete Mittäterschaft, etwa aufgrund eines Dienstverhältnisses als Politiker, Beamter oder Soldat. Der Schwidler gemachte Vorwurf scheint daher absurd; er läuft auf eine Pflicht zum Versuch der indirekten Einflussnahme hinaus. Er hätte versuchen müssen, Abramowitsch dahingehend zu beeinflussen, dass dieser Putin dahingehend beeinflusst, die Ukraine nicht anzugreifen beziehungsweise den Angriff zu beenden. Auf welcher Rechtsnorm beruht diese Pflicht und wie weit ist sie in die Privatsphäre eines Bürgers des Vereinigten Königreichs oder der Bundesrepublik Deutschland auslegbar?

Zudem besagt Artikel 33 des Genfer Abkommens von 1949 zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten, dass keine Person für eine Straftat verurteilt werden darf, die sie nicht persönlich begangen hat. Eine Kollektivstrafe setzt also eine Kollektivschuld voraus. Nach Art. 87 des Genfer Abkommens III und Artikel 33 des Genfer Abkommens IV zählen Kollektivstrafen jedoch zu den Kriegsverbrechen.

Rechtlose, aber fette Beute für unsere westliche Wertegemeinschaft

Das zu bestrafende Kollektiv scheint durch die Liste der durch die EU, durch UK, die Schweiz und die USA seit 2022 sanktionierten Personen festgelegt und definiert sich aus zwei Faktoren: Die native Beherrschung der russischen Sprache und einen Vermögensstatus oberhalb des „Ultra-High-Net-Worth-Individuals“-(UHNWI)-Durchschnitts. So werden Personen mit einem investierbaren Vermögen von mindestens 30 Millionen US-Dollar in der Finanzwelt definiert. Umgangssprachlich scheinen diese Personen eine rechtlose, aber fette Beute für unsere westliche Wertegemeinschaft zu sein.

Die Sanktionen an sich sind Reaktion auf die russische Aggression gegen die Ukraine, einschließlich der Annexion der Krim und der Invasion in der Ostukraine, sowie auf Menschenrechtsverletzungen.

Sofern es um Militärangehörige, um Politiker oder dem Staat dienende Strukturen geht, die direkt oder indirekt von der russischen Aggression profitieren, mögen Sanktionen als politisches Werkzeug nachvollziehbar und sinnvoll sein.

Individualsanktionen jedoch, die keine unmittelbar  und beweisbar Tatbeteiligten treffen, sind grundsätzlich widerrechtlich. Sanktionen, egal gegen wen, sind zudem keine normbasierten Rechtsakte, sondern sie sind dumpfe Machtausübung. Sie folgen dem Prinzip der Möglichkeit: Ich kann es mir erlauben, zu bestrafen, also bestrafe ich. Sanktionen sind Teil der Abkehr vom normbasierten Recht, sie sind die Hinwendung zum Recht des Stärkeren. So wie die Politik der Trump-Administration, so wie Putins Krieg in der Ukraine und so wie Netanjahus Krieg in Palästina.

Wie aus Lehrbüchern der Stasi

Wenn der Status „sehr vermögend“ das Selektionskriterium für Sanktionierungen bestimmt, sind wir nah am legalisierten Raub und der Willkürherrschaft. Dieser Eindruck verschärft sich, wenn Mechanismen der Sippenhaft hinzukommen, um den oftmals legal fragwürdigen Anforderungen europäischer und deutscher Behörden Nachdruck zu verleihen. Denn welchem konkreten Tatbestand folgte die Sanktionierung der beiden Schwestern des von Deutschland verfolgten Usbeken Alischer Usmanow? Beide Schwestern sind praktizierende Ärztinnen im fernen Taschkent. Es wird innerfamilärer Druck aufgebaut, der an Mechanismen der Sippenhaft erinnert.

Denn wie aus dem Urteil des Obersten Gerichtshofs des Vereinigten Königreichs vom Juli 2025 ersichtlich ist, lässt sich eine Verschärfung der Sanktionspolitik erkennen, die auf ähnlichen Mustern beruht, bei denen Familien- und persönliche Netzwerke flächendeckend sanktioniert werden. Nur so ist verständlich, warum die persönliche Nähe von Jewgeni Schwidler zu Roman Abramowitsch für ihn zum Verhängnis wurde. Auch die Aufhebung der Sanktionen der Europäischen Union gegen die beiden Ärztinnen führte nicht zur Aufhebung der Sanktionen in Großbritannien, obwohl diese, wie dargelegt, aus ähnlichen Gründen verfolgt wurden.

Vollends inakzeptabel wird es, wenn Zersetzungsmaßnahmen einhergehen, die den Lehrbüchern der Stasi entsprungen sein könnten: Einschüchterungsmethoden gegen sanktionierte Personen, die deren Ruf beschädigen, ungeachtet solider Beweise. Wenn systematischer Rufmord betrieben wird, oft über direkt oder indirekt staatsfinanzierte Vorfeldorganisationen und unkritische, kollaborierende Medien.

Alle drei Aspekte, Kollektivschuld, Sippenhaft und Zersetzung, lassen das Vertrauen in die Integrität rechtsstaatlicher Prinzipien des Westens erodieren.

Dieses Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit ist eines unserer stärksten Argumente im Wettbewerb der Systeme für selbstbestimmte Menschen überall auf der Welt. Ohne Not sollten wir dieses Argument nicht aus der Hand geben.

Eine Jacht festzusetzen, mag pressewirksam sein, aber es kostet viel Geld, sie zu erhalten. Auf dem Foto: die von Vandalismus heimgesuchte „Phi“ des Russen Sergei Naumenko.

Eine Jacht festzusetzen, mag pressewirksam sein, aber es kostet viel Geld, sie zu erhalten. Auf dem Foto: die von Vandalismus heimgesuchte „Phi“ des Russen Sergei Naumenko.Conor Feasey

Die Spaltung der Eliten in Russland ist nicht gelungen

Daher wirkt es umso bitterer, dass nach mittlerweile mehr als drei Jahren regelmäßig verschärften Sanktionsregimes die ursprünglichen Ziele der Beeinflussung von Entscheidungen in der russischen Administration zugunsten des Völkerrechts, der Akzeptanz territorialer Integrität und elementarer Rechte freiheitlich organisierter Staaten nicht erreichbar scheinen.

Die Spaltung von wirtschaftlichen und politischen Eliten in Russland ist nicht gelungen, absehbar wird dies auch nicht gelingen. Die wirtschaftliche Dynamik Russlands scheint trotz Rückzug westlicher, insbesondere europäischer Firmen ungebremst. Die Entscheidungen des Westens scheinen eher gegenteilig zu wirken, sorgt doch die Sanktionspolitik für massive Modernisierungsschübe in der russischen Gesellschaft. Hebel sind die Asset-Übergänge aus westlicher in russische Verantwortung und der Technologietransfer aus China.

Doch nicht nur dort. Auch außerhalb der Brics-Staaten wird analysiert, wie weit die Rechteeinschränkungen im Westen mittlerweile greifen. Früher selbstverständliche Investitionsentscheidungen für den Westen werden umgelenkt, der Absturz des Dollars um mehr als 10 Prozent seit Jahresbeginn ist Hinweis in das Misstrauen in westliche Stabilität, die Zinsen für zehnjährige US-Staatsanleihen haben mittlerweile bisher unbekannte Dimensionen oberhalb der Vier-Prozent-Grenze erreicht. Auch kein gutes Zeichen.

Selbst jeder möglichen russischen Propaganda unverdächtige Medien wie der Business Insider aus dem Springer-Verlag oder das Handelsblatt kommen in aktuellen Berichten nicht umhin, die Festsetzung von vermeintlich russischen Vermögenswerten nüchtern als Fehlschlag zu beschreiben. Wie das Handelsblatt schreibt, sind von den erhofften 8,3 Milliarden Dollar Sachwerten allein in der Vermögensklasse Jachten gerade mal 3,7 Milliarden festgesetzt worden. Eine Verwertung selbst dieser kleineren Summe war bisher nicht möglich und wird absehbar nicht möglich sein.

Integritätsverlust des WestensIn Deutschland festgesetzt: die Luxusjacht „Dilbar“ in der Lürssen-Werft in Bremerhaven.

In Deutschland festgesetzt: die Luxusjacht „Dilbar“ in der Lürssen-Werft in Bremerhaven.Jörn Hüneke/dpa

So im Fall der Jacht „Phi“. Eigentümer ist der nicht sanktionierte Russe Sergei Naumenko, seine Jacht wurde in London mit viel medialer Aufmerksamkeit festgesetzt. Mittlerweile sorgt Vandalismus für die Zerstörung dieses Assets. Wie das Handelsblatt berichtet, dürfte auch die in Deutschland festgesetzte „Dilbar“ mehrere Millionen Unterhaltszahlungen, mindestens jedoch Umsatzverluste für die beherbergende Lürssen-Werft in Bremerhaven nach sich ziehen. Das Handelsblatt schrieb: „Das jahrelange ‚Parken‘ eines mutmaßlichen Oligarchenschiffs in der Weser zeugt von einer gigantischen Fehlkalkulation westlicher Politik.“

Zum Integritätsverlust für den Westen gesellt sich daher ein schlechtes Geschäft. Bei richtiger Intention scheinen wir ineffektiv zu implementieren und provozieren ein Desaster im Ergebnis. Mit den Erfahrungen der deutschen Geschichte könnten wir ergänzend in Betracht ziehen, dass legal fragwürdige staatliche Enteignungen oft Jahrzehnte später nach dem Prinzip „Rückgabe vor Wiedergutmachung“ korrigiert wurden. Die vermeintlich legalen Räubereien mussten mit erheblicher Verzinsung gegenüber späteren Generationen wiedergutmacht werden. Die heute mit großer Überzeugung vorgetragenen Ziele in Politik und Medien könnten bei Berücksichtigung dieses Aspekts europäischer Geschichte vollends unerreichbar werden. Lord Leggatts Intervention scheint demnach weitsichtiger als die Einschätzungen seiner vier Richterkollegen.

Das berücksichtigend, sollten wir die aktuellen Versuche des legalen Raubs beginnen zu reflektieren, einen Weg der Verständigung suchen und insbesondere mit wirtschaftlich erfolgreichen Menschen des Ostens einen Pfad diskutieren, der Prosperität für den Westen und den Osten ermöglicht. Statt das gegenseitige Töten zu kultivieren. Die beiden SPD-Politiker Platzeck und Stegner, von Geheimdiensten in offener Kooperation mit FAZ und Spiegel für ihre Gespräche mit dem Osten vor wenigen Wochen denunziert, könnten etwas Kluges versucht haben.

Nach der Wende im Osten Deutschlands hat es jedenfalls funktioniert, obwohl genügend Rechnungen auf allen Seiten offen waren. Erinnert sei an Häftlingsverkäufe, die Toten an der innerdeutschen Grenze oder die CoCom-Sanktionierungen.

Holger Friedrich ist Verleger der Berliner Zeitung.

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