Wie stehen heutige Komponisten zur Musik von Dmitri Schostakowitsch? Für Sergei Newski ist sie stilistisch kein übermächtiges Vorbild mehr – die Geisteshaltung dahinter aber erscheint für ihn immer noch prägend.
Dmitri Schostakowitsch hat sich in seiner Musik mit dem tönenden Monogramm «DSCH» verewigt – und mit seiner unbeugsamen Haltung, die ihn noch heute zum Vorbild macht.
Bettmann
Die Szene war bezeichnend. Als die Musikwelt 2006 den 100. Geburtstag von Dmitri Schostakowitsch feierte, kam es im Rahmen der «Musica Nova Helsinki» zu einer Diskussion über den Einfluss seiner Musik in Russland. Auch die britische Komponistin Augusta Read Thomas, Jurorin bei der Basel Composition Competition 2025, diskutierte mit. Die Musikschaffenden sollten sich von Schostakowitsch «befreien», so warf sie damals in die Runde. Gemünzt war dies vor allem auf die Komponisten, die Schostakowitsch überdeutlich als Vorbild reflektierten. Im selben Jahr erschien ein Essay von Boris Filanovsky, dessen Titel in Anspielung auf das tönende Monogramm des Komponisten forderte: «Töte das DSCH in dir».
Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen
NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.
Bitte passen Sie die Einstellungen an.
Heute sieht der Komponist Sergei Newski die Frage des Umgangs mit dem übermächtigen «DSCH» deutlich gelassener. Kein Wunder: Der gebürtige Russe, der seit 1994 in Deutschland lebt, zählt zu den führenden Stimmen einer jüngeren Generation. Dem Schweizer Publikum ist er nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit mit dem Zürcher Dirigenten Titus Engel bekannt. Als Komponist musste sich Newski nie von Schostakowitsch befreien, auch wurde er nicht von einem der besagten Epigonen unterrichtet.
Im Oktober 1972 in Moskau geboren, ist Newski überdies in einer Zeit des Umbruchs gross geworden, die in das Ende der Sowjetunion mündete. «Die russische Tradition war zusammengebrochen», erinnerte sich Newski 2009 in einem Porträt; auch die musikalischen Traditionen im Westen hätten erst «ertastet und begriffen» werden müssen. Seine Übersiedelung nach Deutschland lässt ihn zusätzliche Distanz gewinnen. Er glaube nicht, dass das «musikalische Vokabular» Schostakowitschs «noch irgendeine Bedeutung» habe, so sagt er dezidiert. Aber Schostakowitsch «spielt auch heute noch eine Rolle für russische Komponierende, wenn es um die Geisteshaltung geht».
Vertreter der Entrechteten
Das bezieht sich unter anderem auf die «Stellvertreter-Funktion», die der Autor und Literaturwissenschafter Kay Borowsky vielen russischen Künstlern attestiert hat. Ein kritisches Kunstverständnis, dessen Tradition vom Zarenreich bis in die Sowjetunion, von Puschkin und Mussorgsky bis zu Anna Achmatowa und Schostakowitsch reicht. Sie alle verbinde, so formulierte es Borowsky in Anspielung auf Dostojewski, eine «unwillkürliche Parteinahme für die Erniedrigten und Beleidigten».
Diese Tradition lässt sich bis heute fortschreiben. Auch viele Werke Sergei Newskis verfolgen eine gegenwartskritische Haltung. Das Anfang 2020 in Stuttgart uraufgeführte Musiktheater «Secondhand-Zeit» nach einer Vorlage der Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch zeichnet ein Bild Russlands, das gefährlich zwischen Neuanfang und Sowjet-Nostalgie schwankt. Die Dokumentar-Oper «Die Einfachen» von 2021 macht die homophobe Gesetzgebung in Russland zum Thema. Und das 2024 in Basel uraufgeführte Stück «Göttin der Geschichte» vertont ein Gedicht von Tomas Venclova, entstanden vor dem Hintergrund der grauenvollen Belagerung von Mariupol 2022, zu Beginn des grossflächigen russischen Angriffs auf die Ukraine.
«Ja, in gewisser Weise stehe ich tatsächlich in dieser Tradition», sagt Newski und meint die «Stellvertreter-Funktion». «Ich möchte aber feststellen: Das Volk an sich ist nicht unschuldig, es kann zur selben Zeit die Rolle des Erniedrigten und des Aggressors spielen.» Das Besondere in Russland sei, «dass Kunstschaffende unterdrückt und gleichzeitig gefeiert werden. Das war schon immer so und ist heute nicht anders.» Schon Schostakowitsch wurde abwechselnd als «Volksheld» geehrt und als «Volksfeind» verfolgt. Entscheidend sei aber, meint Newski, ob der Lebensweg eines Künstlers integer bleibe.
Schaufensterpuppen
«Bei Komponierenden im heutigen Russland, die gegen den Krieg und gegen Putin sind, erkenne ich manchmal eine ganz ähnliche Ambivalenz», sagt Newski. «Sie haben ihre Präsenz in der Gesellschaft und ihre subversive Haltung. Gleichzeitig werden sie von derselben Gesellschaft in Teilen getragen. In der Ukraine gelten sie deswegen oft als Schaufensterpuppen des russischen Regimes. Das ist ganz ähnlich wie damals bei Schostakowitsch.» Tatsächlich galt Schostakowitsch in weiten Teilen der westlichen Welt noch bis in die 1980er Jahre als linientreuer Staatskomponist.
Inzwischen weiss man – und es finden sich immer noch neue Hinweise darauf –, dass Schostakowitsch in seine Musik einen doppelten Boden eingezogen hat: eine versteckte zweite Sinnebene mit Zitaten und Anspielungen, die die offizielle Aussage eines Werks nicht selten unterlaufen oder sogar ins Gegenteil verkehren. Newski hört in seiner Musik denn auch das psychologische Porträt eines Menschen, der «paranoide Zustände innerhalb einer aggressiven Massengesellschaft erlebt, in der es für ihn keinen Platz zu geben scheint».
Seit dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine arbeitet Newski nicht mehr in Russland, aus Solidarität mit seinen Kollegen in der Ukraine und mit seiner Tochter, die in Kiew lebt. Er verfolgt jedoch die Arbeit von Musikern, die in Russland geblieben sind. «Da sind auch Komponierende meiner Generation darunter. Sie sind stilistisch weit von Schostakowitsch entfernt, aber Musik konnte schon immer subversive Botschaften aussenden. Musik ist im heutigen Russland wahrscheinlich das letzte freie Medium.»