Am 9. August 1975 ist Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch gestorben. Auf den Tag genau ein halbes Jahrhundert danach erinnern wir an Leben und Nachwirken des Komponisten.
Zeichnung: Anders Winter (Archiv MiD)
Dmitri Schostakowitsch, Russe aus Petersburg, mutierte zum Sowjetbürger, wohl kein Komponist hatte so eine schwierige und komplexe Beziehung zu denen, die seine Heimat regierten. Eine be- und gerühmte, vielfach aber auch umstrittene Künstlerpersönlichkeit. In seiner Heimat gefeiert, brüskiert und gefährdet, im Ausland gefeiert, verklärt, und beleidigt. Ein Leben voller Missverständnisse?
Schulstoff ist er gewesen im Ostblock, was zu unverdienter Ablehnung führte, vor und nach der Wende. Nach seinem sehr frühen Erfolg mit der von den Leningrader Philharmonikern uraufgeführten 1. Sinfonie, die den nur 19jährigen Komponisten in kürzester Zeit weltberühmt gemacht hatte (nur ein Jahr später brachte Bruno Walter Schostakowitschs Diplomarbeit in Berlin heraus, es folgten Aufführungen in den USA unter Leopold Stokowski und Arturo Toscanini), hätte er einen ununterbrochenen künstlerischen Siegeszug antreten können. Allein, es kam anders. Seine 4. Sinfonie zog er – nach den Erfolgen der bekenntnishaften Sinfonien Nr. 2 und 3 – 1936 aufgrund von Formalismusvorwürfen zurück; sie ist erst Ende 1961 von Kiril Kondraschin in Moskau uraufgeführt worden. Knapp zwei Jahre später brachte die Staatskapelle Dresden das Werk als Deutsche Erstaufführung heraus, ebenfalls unter Kondraschin.
War dies der Grundstein für eine besondere Schostakowitsch-Pflege in Sachsen? Mitnichten. Bruno Walter brachte die 1. Sinfonie bereits 1929 nach Leipzig, wo Franz Konwitschny dies später aufgriff und in einer intensiven Beschäftigung mit diesem bedeutungsvollen Werk fortsetzte. Zum 1. Bachfest 1950 – Anlass war der 200. Todestag von Johann Sebastian Bach – ist Dmitri Schostakowitsch in Leipzig zu Gast gewesen und wurde insbesondere durch den Zyklus des Wohltemperierten Klaviers zu seinen eigenen 24 Präludien und Fugen angeregt. Uraufgeführt wurde dieses Opus 87 bereits 1952 in Leningrad, just durch Tatjana Nikolajeva, deren Leipziger Interpretation der Bachschen Vorlage derart inspirierend gewesen ist, dass sie damit den Bach-Wettbewerb gewann und beim Jury-Mitglied Schostakowitsch die kompositorische Initialzündung auslöste.
1960 sollte er in Dresden die Filmmusik zum Propaganda-Streifen »Fünf Tage – Fünf Nächte« komponieren, einer frühen Koproduktion von Defa und Mosfilm, und logierte dazu im jüngst errichteten Gästehaus des DDR-Ministerrates im Kurort Gohrisch. Drei schaffensreiche Tage sind das gewesen, in denen allerdings keine Filmmusik, sondern das 8. Streichquartett c-Moll op. 110 entstanden ist. Sein vielleicht biografischstes Werk und zugleich die einzige nicht in seinem Heimatland geschaffene Komposition. 1972 kehrte Schostakowitsch noch einmal nach Gohrisch zurück, diesmal mit seiner Ehefrau Irina. Noch in den 1970er Jahren startete der langjährige Gewandhauskapellmeister Kurt Masur in Leipzig die weltweit erste Aufführung aller 15 Schostakowitsch-Sinfonien in einem vielbeachteten Zyklus. Erst im Frühjahr 2025 knüpfte Andris Nelsons als heutiger Gewandhauskapellmeister und Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra zum Leipziger Schostakowitsch-Festival mit seinen beiden Klangkörpern daran an. Ein fulminanter Erfolg!
Kurz darauf setzten die Internationalen Schostakowitsch-Tage Gohrisch in ihrem 16. Jahrgang einen weiteren Meilenstein in der sächsischen Schostakowitsch-Pflege. Zur Gründung dieses weltweit einzigen Festivals, das sich konsequent mit Leben und Werk von Dmitri Schostakowitsch beschäftigt, kam 2010 der Dirigent Michail Jurowski in die Sächsische Schweiz. Er ist dem Komponisten bereits im Kindesalter begegnet und konnte von sich sagen »Er kannte mich früher als ich ihn.« Damit bezog er sich auf frühes vierhändiges Klavierspiel mit Schostakowitsch im Hause seines Vaters Wladimir Jurowski, der ebenfalls Komponist war. Später haben Michail Jurowskis Söhne Wladimir und Dmitri – beide sind ebenfalls herausragende Dirigentenpersönlichkeiten und leiten namhafte Klangkörper – diese in einzigartiger Weise auf persönliche Bezüge zurückgehende Musikpflege fortgesetzt. So war der 1979 geborene Dmitri Jurowski bei den jüngsten Schostakowitsch-Tagen erneut zu Gast und brillierte nicht zuletzt mit Bearbeitungen von Schostakowitsch-Kompositionen aus eigener Hand. Seines Vaters Fußstapfen, erzählt er, »waren immer schon irrsinnig groß, vor allem in den letzten drei Jahren, seit er nicht mehr da ist. Ich spüre seine Anwesenheit noch intensiver als vorher.« Die familiären Erinnerungen an Schostakowitsch seien so intensiv gewesen, dass er mitunter das Gefühl gehabt habe, den vier Jahre vor seiner Geburt verstorbenen Künstler persönlich zu kennen. Dabei war es sein Großvater, der Komponist Wladimir Jurowski, der während der Evakuierung im Zweiten Weltkrieg in Kuibischew quasi Tür an Tür mit Schostakowitsch gelebt hatte. »Das war natürlich eine extreme Zeit, eine sehr intensive Zeit, in der dann auch die Leningrader Symphonie entstanden ist.«
In späteren Werken hat Dmitris Vater Michail Jurowski bereits als Assistent mitgewirkt, so bei der Uraufführung der 15. Sinfonie. Möglicherweise konnte im Frühsommer 2025 ein Kreis geschlossen werden, als Dmitri Jurowski in Gohrisch Schostakowitschs Bearbeitung der Oper »Rothschilds Geige« von Benjamin Fleischmann in einer eigenen Kammerfassung auf Deutsch herausbrachte und zudem die von Rudolf Barschai instrumentierte Kammersinfonie op. 110 a aufführte, die auf das in Gohrisch entstandene Streichquartett op. 110 zurückgeht und am selben Ost bereits von Michail Jurowski aufgeführt wurde.
Doch die Geschichte geht weiter. Wie soll, wie darf heute mit der Musik von Dmitri Schostakowitsch umgegangen werden? Russlands Diktator missbraucht dieses Werk in eklatanter Weise, die von Putins Regime überfallene Ukraine hingegen verzichtet einstweilen ausdrücklich auf diese Musik. Dmitri Jurowski liefert die passende Erklärung zu diesem völlig kunstfernen Phänomen: »Ich glaube, dass Schostakowitschs Idee immer gewesen ist, die aktuellen Ereignisse, die auf der Welt passieren, in seiner Musik auszuleben und durch die Musik seine eigene Meinung dazu kundzutun. Seine Sorge war immer, dass seine Werke immer aktuell bleiben.« Ein Paradox? Jurowski verneint: »Er hatte nicht die Sorge, irgendwann in Vergessenheit zu geraten. Er hatte eher die Sorge, dass die Werke aktuell bleiben. Und wie die heutige Zeit zeigt, waren die Sorgen berechtigt, leider. Was momentan in den verschiedensten Ecken der Welt an schrecklichen Dingen passiert und auch die Zukunft für Gefahren bereithält, da ist es ganz wichtig, Schostakowitsch zu hören, weil er wirklich alles Mögliche erlebt hat und weil für ihn um das Volk ging, um Menschen, nicht um Regierungen und irgendwelche politischen Ideen.«
Die sowjetische Regierung bescherte dem Künstler 1975 dennoch ein Staatsbegräbnis. Die finale Farce nach einem bewegten Leben voller Missverständnisse? Leider nein. Im auf den Krieg eingeschworenen Russland von heute, das all sein grauenhaftes Morden und Zerstören seit 2022 als »militärische Spezialoperation« verschwurbeln lässt, werden die anmaßenden Fehldeutungen fortgesetzt. Zugleich, so wissen es Kenner des heutigen Musiklebens in Russland aus erstbester Hand, sei die Wertschätzung von Schostakowitsch unbestritten und »womöglich noch größer ist als zu sowjetischen Zeiten.«
Um Dmitri Schostakowitsch und das Werk dieses vielleicht größten Sinfoniker des 20. Jahrhunderts zu verstehen, bedürfe es »vielerlei Grundkenntnisse, wie diese Musik zustande kam und was in ihr tatsächlich steckt.« Andris Nelsons bringt es so auf den Punkt: »Für mich ist er einer der ganz Großen – neben Richard Strauss, Gustav Mahler oder Ludwig van Beethoven. Ich verehre ihn seit meiner frühen Jugend. Keine Note überflüssig, keine Note langweilig. All seine Musik ist tief menschlich, sie berührt einen unmittelbar!«
Michael Ernst / Über den Autor
Michael Ernst widmet sich privat, im Rundfunk sowie in Printmedien Literatur, Musik und Theater. Er ist an Opernhäusern und Musikfestspielen sowie als freier Autor tätig gewesen und schreibt seit 2009 für »Musik in Dresden«.
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