Die finanzielle Lage der Sozialversicherungen in Deutschland ist enorm angespannt, gestritten wird darüber, wie die Systeme gesichert werden können. Expertengruppen sollen für die Bundesregierung Reformvorschläge ausarbeiten. Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm fordert die Politik nun auf, die Menschen darauf vorzubereiten, dass Einschnitte nötig sein werden.
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„Wir brauchen in der Renten-, Pflege- und Krankenversicherung mehr Ehrlichkeit darüber, welche Leistungen wir uns wirklich leisten können und welche nicht“, sagte die Nürnberger Wirtschaftsprofessorin den Zeitungen der Funke Mediengruppe am Sonntag. Das bedeute auch, „dass wir mitunter Leistungen werden kürzen müssen“. Politiker von SPD und Grünen wiesen den Vorstoß am Sonntag zurück.
Wer in der Lage ist, Teile der Pflegeleistungen selbst zu finanzieren, der muss das auch tun.
Veronika Grimm, Wirtschaftsweise
Grimm warnte davor, Versprechungen abzugeben, die am Ende nicht gehalten werden könnten. Als Beispiel nannte Grimm die sogenannte Haltelinie des Rentenniveaus auf 48 Prozent, die gerade vom Bundeskabinett unter Kanzler Friedrich Merz (CDU) beschlossen wurde.
„Auf Dauer wird das nicht finanzierbar sein. In der Pflege sieht es nicht anders aus“, sagte Grimm, die Mitglied im Sachverständigenrat der Regierung zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist.
Mitglied im Sachverständigenrat der Regierung zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Veronika Grimm.
© dpa/Hannes P Albert
Einer unter anderem von den Kommunen geforderten Vollversicherung in der Pflege erteilte die 53-Jährige eine Absage: „Wer in der Lage ist, Teile der Pflegeleistungen selbst zu finanzieren, der muss das auch tun.“ Sonst könne das Pflegesystem auf Dauer nicht finanziert werden.
3100 Euro monatlich Eigenanteil für Pflege im Heim
Eine Auswertung des Verbandes der Ersatzkassen hatte vor kurzem ergeben, dass die Pflege im Heim für Bewohnerinnen und Bewohner noch teurer geworden ist. Die Zahlungen aus eigener Tasche während des ersten Jahres in der Einrichtung überschritten jetzt im bundesweiten Schnitt die Marke von 3100 Euro im Monat.
Grimm sagte weiter, auch die steigenden Lohnnebenkosten müssten im Blick behalten werden: „Arbeit wird durch die hohen Lohnnebenkosten zu teuer und unattraktiv“, warnte Grimm. Schon jetzt lägen sie bei 42 Prozent und könnten bis zum Ende dieser Legislaturperiode auf 45 Prozent steigen.
Eine von der Bundesregierung eingesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter Leitung von Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) arbeitet derzeit an Vorschlägen für eine Reform der Pflegeversicherung.
Im Fall der Rente soll eine Kommission Anfang 2026 starten und ihre Reformvorschläge 2027 vorlegen. Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas betonte, dabei gehe es vor allem um die Zukunft und die Frage, was über die laufende Legislatur hinaus benötigt werde.
Rente
Aktuellen Zahlen zufolge erhielten 2024 rund 22,3 Millionen Menschen in Deutschland Leistungen aus der gesetzlichen, privaten oder betrieblichen Rente. Das waren 0,75 Prozent mehr als im Vorjahr. Ausgezahlt wurden den Angaben zufolge insgesamt rund 403 Milliarden Euro, das waren 5,7 Prozent mehr als im Vorjahr.
Die SPD-Co-Chefin äußerte allerdings Zweifel daran, dass die Empfehlungen der geplanten Rentenkommission noch vor der nächsten Bundestagswahl in die Praxis umgesetzt werden. „Welche Pflöcke wir in dieser Regierung noch einschlagen können, werden wir sehen. Alles andere ist dann Sache der nächsten Regierung“, sagte sie der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“.
Bas hatte zuvor bereits vorgeschlagen, Beamte und Politiker in die Deutsche Rentenversicherung einzahlen zu lassen. Dieser Vorstoß der SPD-Co-Chefin wird vom Koalitionspartner CDU/CSU kategorisch abgelehnt.
Pension der Beamten
Wissenschaftler des Pestel-Instituts machten gerade den Vorschlag, dass Beamte künftig fünfeinhalb Jahre länger arbeiten sollten als Arbeiter, weil sie im Schnitt so viel länger leben. Dies berichtete der „Spiegel“ unter Berufung auf eine Untersuchung von Wissenschaftlern, die die unterschiedliche Lebenserwartung bei der Frage nach einem gerechteren Rentensystem einbezieht.
Grimm hatte dazu gesagt, wer Beamte in die Rentenversicherung integrieren wolle, löse das Problem nicht. Es bestehe die Gefahr, „dass man hoch qualifizierte Mitarbeiter in den Ministerien mit der Erarbeitung von Scheinlösungen befasst“.
SPD-Politiker Wiese kritisiert Grimms Vorschläge
Dirk Wiese, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion, erklärte auf Tagesspiegel-Anfrage, dass in der Koalition vereinbart worden sei, „zeitnah nach der Sommerpause eine Kommission zur Reform und Sicherung unseres Sozialstaates“ einzusetzen.
Die Äußerungen von Grimm würde er „als Debattenbeitrag zur Kenntnis“ nehmen. Die SPD lehne allerdings eine „neoliberale Herangehensweise“, bei der Lösungen nur durch Kürzungen bei der Versorgung der Bürgerinnen und Bürger gesucht würden, klar ab. Solche Ansätze seien „zu einfach gedacht“ und fänden keine Zustimmung, sagt Wiese.
Sepp Müller, stellvertretender Fraktionschef der CDU, sagte dem Tagesspiegel, dass eine Kommission zur Reform der Sozialversicherungen „auf den Weg gebracht“ worden sei. Ziel sei es, „die Weichen für die Reform bereits in diesem Jahr zu stellen“. Dabei solle alles auf den Prüfstand gestellt werden.
Die Rente noch weiter zu kürzen, würde bedeuten, viele Frauen, vor allem Frauen im Osten, im Alter in Armut zu stürzen.
Andreas Audretsch, Grünen-Fraktionsvize
Besonders betonte Müller: „Wichtig ist uns, dass die Beiträge zur Sozialversicherung nicht weiter ansteigen.“ Ein weiterer Anstieg würde ihm zufolge einen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit bedeuten.
Auch die Grünen lehnten Grimms Vorstoß strikt ab. „Die Rente noch weiter zu kürzen, würde bedeuten, viele Frauen, vor allem Frauen im Osten, im Alter in Armut zu stürzen“, sagte Fraktionsvize Andreas Audretsch den Funke Zeitungen. Gerade diese seien von der gesetzlichen Rente abhängig. „Seit den 1990ern ist das Rentenniveau deutlich gesunken, und es ist richtig, es jetzt bei 48 Prozent zu stabilisieren.“
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Zur Stabilisierung der Sozialsysteme müssten andere Stellschrauben in den Blick genommen werden, sagte Audretsch weiter, etwa in dem man mehr Menschen überhaupt zu arbeiten. „Wenn Frauen so viel arbeiten könnten, wie sie wollen, hätten wir 850.000 Vollzeitarbeitskräfte mehr.“ Auch viele Menschen, die als Zuwanderer gekommen sind, hätten immer noch keinen Zugang zum Arbeitsmarkt.
„Wer bei Gesundheit und Pflege nach Leistungskürzungen ruft soll konkret werden“, so Audretsch. „Wer soll nicht mehr versorgt werden? Wer soll nicht mehr gepflegt werden?“ Der richtige Weg sei es, das System besser und effizienter zu machen, nicht Menschen die Versorgung zu streichen.