Die Touristen hatten den besten Blick auf das Geschehen. Der doppelstöckige Bus, mit dem Urlauber ihre Stadtrundfahrten machen, fuhr am Samstagnachmittag am Parliament Square vorbei, dem Platz vor dem Big Ben. Was die Passagiere von oben sahen: auf der sonnenbeschienenen Wiese saßen, umgeben von weiteren Demonstranten,  Hunderte Menschen, mit Schildern in der Hand: „Ich widersetze mich Völkermord, ich unterstütze Palestine Action“. Was sie auch sahen: Einer nach dem anderen wurde von Uniformierten weggetragen oder weggeführt und in Streifenwagen gebracht. Was sie die Umstehenden skandieren hörten: „Shame on you“, schämt euch!  Es galt den Polizisten. 466 Menschen sollten die bis zum Abend wegen der Plakate festnehmen.

Sympathisanten drohen bis zu 14 Jahre Haft

Der Protest, organisiert von der Initiative Defend Our Juries, war der bisher größte, der Bezug auf Palestine Action nahm, seit die britische Regierung die Aktivistengruppe am 5. Juli als terroristische Vereinigung eingestuft und verboten hat. Die Aktivisten seien verantwortlich für „direkte kriminelle Handlungen gegen Unternehmen und Institutionen, darunter wichtige nationale Infrastruktur- und Verteidigungsunternehmen“, hieß es als Begründung. Seit dem Tag des Verbots ist dieses Bezugnehmen bereits eine Straftat, den Sympathisanten drohen bis zu 14 Jahre im Gefängnis.

Hilfsflüge für Gaza

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Vom Cockpit der Bundeswehrmaschine sieht man direkt runter auf sie: die Kriegsruinen, die riesigen Zeltstädte, Menschen zwischen weißen Planen. Hunderttausende warten im Gazastreifen auf Nahrungsmittel, viel zu wenig kommt an. Was bringen die Hilfsflüge Deutschlands?

SZ PlusVon Kristiana Ludwig (Text) und Friedrich Bungert (Bilder)

Die Debatte um den Nahostkonflikt hat sich in den vergangenen Wochen auch in Großbritannien zugespitzt. Im Juli gaben etwas mehr als die Hälfte der Briten an, Israels Vorgehen in Gaza für ungerechtfertigt zu halten. Nachdem Premierminister Keir Starmer von einer wachsenden Zahl an Bürgern sowie im Parlament – und dort auch aus den eigenen Reihen – zum entschlosseneren Handeln gedrängt worden war, kündigte er kürzlich an, Palästina unter gewissen Bedingungen als Staat anerkennen zu wollen. Im Verbot von Palestine Action nun sehen Kritiker einen Widerspruch zur zunehmend besorgten und kritischen Haltung der Briten und ihrer Regierung.

Amnesty International UK verurteilte das Verbot als „beispiellosen gesetzlichen Übergriff“, der Machtbefugnisse im großen Stil schaffe, um Menschen zu verhaften und Meinungen zu unterdrücken. 300 britische Jüdinnen und Juden um Filmemacher Mike Leigh unterzeichneten ein Schreiben an Starmer, in dem sie das Vorgehen „illegitim und unethisch“ nannten. Am Samstagnachmittag war es etwa eine Demonstrantin, die einen stoisch stummen Polizisten an der Wiese anflehte: „Die Aktivisten können natürlich für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden, aber nennt sie doch nicht Terroristen. Sie sprühen Farbe auf verdammte Flugzeuge, sie haben niemanden umgebracht!“

Die Gruppe wird auf der Terrorliste geführt, etwa neben dem IS

Gegründet wurde Palestine Action im Sommer 2020 von Huda Ammori und Richard Barnard. Ammori,  irakisch-palästinensischer Herkunft, begann sich bereits während ihres Wirtschaftsstudiums in Manchester gegen Israels Politik in Gaza zu engagieren. Barnard hatte Erfahrung gesammelt als Mitglied einer christlichen Anarchistengruppe sowie bei der Umweltschutzbewegung Extinction Rebellion. Laut Prospect Magazine ist der Brite allein neun Mal in amerikanische Luftwaffenstützpunkte in Deutschland eingestiegen. Die Proteste von Palestine Action richten sich vor allem gegen die britischen Standorte von Israels größtem Waffenhersteller, Elbit Systems. Fabrikgebäude wurden mit roter Farbe beschmiert, Fenster eingeschlagen, Mitglieder der Organisation ketteten sich auf Dächern fest.  Mit dem Ausbruch des Gaza-Kriegs im Oktober des folgenden Jahres wuchs die Zahl der Unterstützer, und die Aktionen wurden zahlreicher und auch heftiger. Angestellte des Unternehmens und Polizisten, die sich den Aktivisten in den Weg stellten, wurden verletzt. Nachdem zwei Mitglieder im Juni dieses Jahres in die größte Luftwaffenbasis des Landes eingedrungen waren und zwei Tankflugzeugen Schäden in Höhe von sieben Millionen Pfund (8 Millionen Euro) zugefügt hatten, griff die Labour-Regierung durch. Nun wird die Gruppe auf der Terrorliste geführt, neben dem IS zum Beispiel.

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Kommentar von Tomas Avenarius

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Über Westminster kreist ein Helikopter. Polizisten tragen einen älteren Mann vom Parliament Square weg. Die Umstehenden schreien auf die Polizisten ein. Sie sollten sich vorstellen, ihre Kinder würden verhungern, und man dürfe dagegen nicht auf die Straße gehen; sie sollten sich vorstellen, ihre Eltern säßen da am Boden, um gegen das Leid zu protestieren. Ein Demonstrant bedient sich der Absurdität, die Kritiker des Verbots der Regierung vorwerfen, und ruft, als ein Polizist das Schild des Festgenommenen in die Hand nimmt: „Er trägt das Schild, er ist ein Terrorist, Hilfe.“

Am Abend bedankte sich Innenministerin Yvette Cooper bei den Einsatzkräften und sagte: „Viele Menschen kennen das wahre Wesen dieser Organisation vielleicht noch nicht, aber die Einschätzungen sind eindeutig – dies ist keine gewaltfreie Organisation. Die nationale Sicherheit und die öffentliche Sicherheit des Vereinigten Königreichs müssen immer oberste Priorität haben.“

Das Verbot gelte nur dieser einen Gruppe. Die spiegle keineswegs die Haltung der Tausenden von Menschen im ganzen Land wider, die weiterhin ihr Grundrecht ausübten, zu protestieren, sagte die Innenministerin. Tatsächlich zogen am Samstag noch tausende andere vom Russel Square Richtung Downing Street. Daneben fuhren drei große Gruppen demonstrierender Radfahrer durch London. Der Verkehr war erheblich beeinträchtigt. Stadtrundfahrten indes waren nicht gefährdet.