In Estland könnte Russlands Präsident Wladimir Putin schon bald versuchen, die Beistandspflicht nach Artikel 5 der Nato zu testen. Davor warnt auch der Militärexperte Carlo Masala: In seinem neuen Buch schreibt er, die Russen könnten zeitnah die estnische Grenzstadt Narva angreifen. Die 60.000 Einwohner dort stammen fast alle aus Russland. Was würde bei einem solchen Angriff passieren?
Der Ex-General Riho Terras musste aus beruflichen Gründen gedanklich bereits alle möglichen Angriffspläne der Russen auf Estland durchspielen. Sieben Jahre lang war er Befehlshaber der estnischen Verteidigungskräfte. Seit 2020 sitzt Terras für die konservative Partei Isamaa im Europäischen Parlament. Er ist Vize-Vorsitzender des EU-Verteidigungsausschusses. Terras betont, die Esten ließen sich von Putin und seinen Provokationen keine Angst einjagen. Schließlich fühlten sie sich für allerlei Angriffsszenarien gut gerüstet.
ntv.de: Die estnische Grenzstadt Narva kursiert in den deutschen Schlagzeilen, weil der Militärexperte Carlo Masala vor dem „Narva-Szenario“ warnt: Putin könnte die Stadt überfallen – und damit die Nato und ihre Beistandspflicht nach Artikel 5 auf die Probe stellen. Für wie realistisch halten Sie das Szenario?
Riho Terras: Das Narva-Szenario ist seit 2014 immer wieder Thema. Es darf aber keine selbsterfüllende Prophezeiung werden. Dafür müssen die Nato-Staaten gemeinsam mit Estland Stärke demonstrieren. Putin darf gar nicht auf den Gedanken kommen, Narva oder eine andere Stadt an der russischen Grenze anzugreifen. Die allermeisten der 60.000 Einwohner Narvas sind russischsprachig. Aber eine russischsprachige Mehrheit gibt es zum Beispiel auch in der ostukrainischen Stadt Pokrowsk, um die seit drei Jahren so erbitterte Kämpfe toben. Es gibt jedoch einen großen Unterschied zwischen Narva und Pokrowsk. Narva gehört zu Estland und damit sowohl zur Europäischen Union als auch zur Nato.
Vor seinem Einzug ins EU-Parlament war Riho Terras von 2011 bis 2018 Befehlshaber der Verteidigungsstreitkräfte der Republik Estland.
Also stehen auch die ethnischen Russen in Narva hinter der Nato und der Europäischen Union, nicht hinter Putins Russland?
Narvas Bevölkerung ist zu 95 Prozent russischsprachig. Die Hälfte dieser Leute lebt dort schon seit Jahrhunderten. Mein Vater kommt aus Narva. Ich bin selbst 30 Kilometer entfernt geboren. Sowohl ich als auch andere Leute aus Narva sagen voller Überzeugung: Narva ist eine Grenzstadt, aber sie gehört zu Europa. Falls Narva im Angriffsfall nicht gemeinsam mit den Verbündeten Estlands verteidigt werden würde, wäre das gesamte Konzept der Nato und der EU Geschichte. Wenn man in Narva lebt und über die Brücke nach Russland geht, hat man den direkten Vergleich zum Lebensstandard in der EU. Dann weiß man, warum man diesen Lebensstandard nicht aufgeben will. Viele russischsprachige Leute in Estland haben auch deshalb die estnische Staatsbürgerschaft.
Ist das ein Grund, warum die Brücke zwischen Narva und der russischen Grenzstadt Iwangorod offenbleibt, auch für Fußgänger? Um den Leuten zu zeigen: Guckt euch gerne an, wie die russischen Nachbarn leben?
Es gibt mehrere Gründe dafür. Der wichtigste ist, dass viele Menschen in Narva Beziehungen nach Russland unterhalten. Vor dem Zweiten Weltkrieg gehörte auch das andere Ufer des Flusses Narva, der die Grenze markiert, zu Estland. Nach dem Krieg wurde die Stadt zweigeteilt, aber viele Menschen auf beiden Seiten des Ufers sind miteinander verwandt. Die Brücke muss offen bleiben für Leute, die sie tagtäglich überqueren müssen. Dahinter steckt keine besondere Strategie. Es gibt keinen Grund, sie zu schließen.
Für den Herbst hat Russland ein Manöver an der Grenze zu den baltischen Staaten angesetzt. Mit grenznahen Manövern hat auch der Überfall auf die Ukraine begonnen. Ist das eine Drohgebärde Putins an Estland, Litauen und Lettland?
Diese Übung namens Sapad führen die Russen schon seit Jahrzehnten durch, es gab sie schon zu Sowjetzeiten. Und diese Übung richtete sich nie speziell gegen Estland, Litauen oder Lettland. Es ging immer darum, verschiedene Konfliktszenarien mit der Nato durchzuspielen. Deshalb muss sich wiederum die Nato mit dieser Übung der Russen beschäftigen. Zwar kann man Provokationen Russlands gegenüber den baltischen Staaten nie völlig ausschließen – aber Russland hat eigentlich nicht genügend Kraft, um eine weitere Front zu eröffnen. Die ukrainischen Soldaten kämpfen tapfer gegen Russland und rauben Putin damit die Kraft für ein weiteres Abenteuer.
Sie halten einen Angriff Russlands auf die baltischen Staaten für unwahrscheinlich?
Es besteht immer die Möglichkeit, dass Putin sich überschätzt. Denn Putin wird manchmal nicht gut genug informiert durch seine Leute. Dann werden Entscheidungen getroffen, die nicht logisch sind. Der Angriff auf die Ukraine war auch nicht logisch, aus keiner Perspektive. Putin hat in der Ukraine kein einziges Ziel, das er sich gesteckt hat, erreicht. Falls Putin tatsächlich Estland oder einen anderen baltischen Staat angreifen sollte, muss die Nato bereit sein. Mich wundert es aber, dass Leute sich die Frage stellen, ob die Nato uns in Estland in dem Fall zur Hilfe kommt. Verdammt noch mal, wir sind die Nato!
Also haben Sie den Eindruck, Narva wäre gut vor einem Angriff geschützt?
Ich will nicht mit diesem Szenario in Narva spielen, weil es für mich keines ist. Man kann beliebige Städte an der Grenze zu Russland nehmen und darüber das Gleiche sagen, etwa an der Grenze zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und Litauen. Für mich ist es unlogisch, das Narva-Szenario so hervorzuheben. Außerdem zeigt die Geschichte: Die Russen sind nie durch Narva in Estland eingedrungen, denn das Gelände dort ist einfach zu verteidigen.
Die estnische Armee hat 7100 aktive Soldaten, richtig?
Diese mehr als 7000 Soldaten sind Ausbilder der Armee. Es gibt aber 50.000 Soldaten in der Reserve, die jedes Jahr eine Übung abhalten, um ihre Heimat zu verteidigen. Sie alle wären im Angriffsfall innerhalb von 48 Stunden bereit. Wir haben in Estland eigentlich etwa 90.000 ausgebildete Soldaten. Aber für die restlichen 40.000 besitzen wir heute noch nicht genügend Ausrüstung, Waffen und Munition. Nächstes Jahr wird Estland 5,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung ausgeben, mit dem Ziel, unsere Armee noch größer und effektiver zu machen.
Keine Chance für Putins Armee also?
Wenn man sich einen Multiple-Choice-Test vorstellt, hat Estland schon einmal die Option gewählt, nicht gegen die Russen zu kämpfen. Das war 1939. Unsere Regierung hat damals gedacht, vielleicht wäre das besser. Bei dem russischen Angriff haben wir dann zehn Prozent unserer Bevölkerung verloren. Finnland zum Beispiel hat damals gekämpft. Dabei hat es zwar Territorium verloren, aber die Ehre und den Großteil seines Landes erhalten. Das wissen die Esten. Deshalb würde in Estland jeder Baum auf die russischen Truppen schießen, ob mit Nato oder ohne.
Estland gehört zu den sechs EU-Mitgliedstaaten, die noch eine Wehrpflicht haben. Alle gesunden männlichen Staatsbürger müssen mindestens acht Monate Wehrdienst ableisten. Halten Sie das grundsätzlich für den richtigen Weg für andere Länder, auch für Deutschland?
Es ist mit Sicherheit ein richtiges Konzept für Länder, die sehr klein sind, wie die baltischen Staaten. Denn Estland kann sich eine Berufsarmee in der nötigen Größe nicht leisten. Die Esten diskutieren momentan darüber, ob die Wehrpflicht auch für Frauen gelten sollte – sie können sich bislang freiwillig für den Wehrdienst entscheiden. Falls größere Länder wie Frankreich oder Deutschland genug Geld ins Militär investieren, würden wahrscheinlich auch Berufsarmeen ausreichen. Für mich hat die Wehrpflicht aber noch eine andere Dimension: Sie verbindet die Gesellschaft mit der Armee.
Wie meinen Sie das?
Jede Familie in Estland hat einen oder zwei Angehörige, die im Militär sind oder waren. Wenn ich als Politiker im Wahlkampf sage, ich werde fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung ausgeben, denken die Leute: Aha, mein Sohn war ein Wehrpflichtiger und ist jetzt in der Reserve – er wird dadurch eine bessere Ausrüstung haben für die Verteidigung. Das heißt, viele Leute wählen eine Partei, die das befürwortet. Die Wehrpflicht als solche unterstützen 85 Prozent der estnischen Bevölkerung. Nur unter den jungen Männern zwischen 18 und 25 Jahren, die noch nicht ihre Wehrpflicht abgeleistet haben, liegt die Unterstützung mit 60 Prozent niedriger.
Deutschland plant die Wiedereinführung der Wehrpflicht, angelehnt an das schwedische Modell. Das läuft ein bisschen anders ab als in Estland. Nach diesem Modell werden alle Männer und Frauen im wehrfähigen Alter gemustert. Wenn es nicht genug Freiwillige gibt, wird verpflichtet. Was halten Sie davon?
Das müssen die deutschen Politiker entscheiden. Wichtig ist: Die Bundesregierung hat erkannt, dass ein Krieg in Europa möglich ist und sich die Nato-Verbündeten gemeinsam verteidigen müssen. Das sollte ein Vorbild sein für Länder wie Spanien oder Italien. In diesen Ländern sind die Verteidigungsausgaben sehr niedrig. Wir müssen alle daran arbeiten, dass die Nato als Ganzes stärker wird, denn es geht nicht nur um Russland – es geht auch um China, es geht um den Iran. Diese Länder werden genau beobachten, was wir in Europa zustande bringen und sich dann entscheiden, auf welcher Seite sie stehen wollen.
Sind Sie sauer auf Spanien und Italien, weil dort nicht genug in das Militär investiert wird?
Diese Gespräche führe ich täglich im Europäischen Parlament. Österreich oder Irland zum Beispiel investieren unter einem Prozent ihrer Wirtschaftskraft in die Verteidigung. Das sind für mich klare Fälle von Trittbrettfahren. Diese Länder sagen: Okay, wir sind sicher genug, wir brauchen das alles nicht. Wieso müssen wir in Estland auf Kosten unserer Sozialausgaben unsere Verteidigung verbessern und die anderen nicht? Auch estnische Mütter wollen Kindergeld.
Da würden die Spanier wahrscheinlich sagen: Na ja, wir sind ganz weit weg von Russland und darum fühlen wir uns auch nicht so bedroht.
Ganz Europa wird tagtäglich angegriffen. Nicht mit konventionellen Waffen, aber durch Cyberattacken und Desinformationskampagnen. Da werden auch Spanier und Italiener irgendwann Hilfe brauchen. Die baltischen Staaten haben sich in Europa solidarisch gezeigt. Als etwa die erste Flüchtlingswelle durch das Mittelmeer nach Europa kam. Da haben die Esten, Letten und Litauer geholfen, auch finanziell. Oder nehmen Sie die estnischen Soldaten, die in der Zentralafrikanischen Republik zusammen mit den Franzosen im Einsatz waren. Was haben wir Esten da gesucht? Nichts. Aber wir haben verstanden, dass Sicherheit eine Gemeinschaftsaufgabe ist.
Wie gefährlich sind die Cyberangriffe auf europäische Staaten – und sind die Esten besonders betroffen?
Nein, sind wir nicht. Wir haben uns mit diesem Thema schon seit 2000 beschäftigt und ein digitales Regierungssystem aufgebaut. Als Russland 2007 estnische Regierungsseiten angegriffen hat, waren wir bereit und konnten die Attacke weitestgehend abwehren. Wir haben das Center of Excellence of Cyber Defence in Tallinn, das sich mit der gesamten Nato-Cyberverteidigung beschäftigt. Das heißt, wir sind weniger von Cyberattacken betroffen als andere Länder, weil wir fähiger sind, uns zu verteidigen. Ich habe aber zum Beispiel Freunde in deutschen Unternehmen, die sich da unsicher sind. Cyberattacken und Desinformationskampagnen gehören zum russischen Arsenal, um die Gesellschaften in Europa zu verunsichern. Diese Unsicherheit verursacht Hass, der wiederum die Unsicherheit verstärkt. Irgendwann kommt es zu Straßenkämpfen. Das will niemand.
Was hilft denn gegen diesen Hass, den die russischen Desinformationskampagnen streuen?
Wahrheiten. Wieso glauben die Leute in Narva nicht an die russische Propaganda? Aufgrund der alltäglichen Erfahrung. Hier ein Vergleich mit dem Wetter: Wenn ich aus dem Fenster gucke und da scheint die Sonne, kann mir wer auch immer im Fernsehen sagen, dass es regnet. Ich glaube immer noch, dass die Sonne scheint, weil ich das selbst sehe und fühle. Dieses selbst sehen und fühlen ist wichtig. Estland, Lettland und Litauen sind schöne Staaten, die jeder besuchen kann, um zu sehen, dass wir ein ganz normales Leben führen. Wir laufen nicht mit Maschinengewehren rum und fürchten etwas. Wir sind bereit zur Verteidigung, aber wir sind nicht verängstigt. Wir fürchten uns nicht, weil wir in Estland fest an die Nato glauben. Wir müssen mit unseren Freunden in den USA und Europa weiter daran arbeiten, dass auch Putin an die Nato glaubt – weil er dann nicht angreifen wird.
Von Deutschland aus stellt man sich das also zu Unrecht anspruchsvoll vor, die vielen ethnischen Russen, die in Estland leben, von der Nato und der EU zu überzeugen?
In Berlin wohnen 300.000 russischsprachige Menschen, also zehn Prozent der Bevölkerung. Das wird nicht als Problem dargestellt. In Estland sind russischsprachige Menschen Staatsbürger von Estland. Die meisten, besonders die jüngeren Leute, sprechen Estnisch. In allen Gesellschaften und Bevölkerungsgruppen gibt es Leute, die unzufrieden mit ihrer Regierung sind. Das ist in Estland kein Problem, das durch die russischsprachige Bevölkerung entsteht. Putin kann die Russischsprachigen in Estland auch nicht als Vorwand nutzen, um anzugreifen. In der ukrainischen Oblast Donezk etwa kämpfen die russischsprachigen Ukrainer gegen die russischen Truppen. Nicht alles hängt davon ab, welche Sprache man spricht. Zehn Prozent der estnischen Wehrpflichtigen und Reservisten sind russischsprachig.
Gibt es in Estland nicht auch Menschen, die einen russischen Pass haben, aber keinen estnischen?
Doch, die gibt es schon. Und es gibt auch noch die, die gar keinen Pass haben, sondern einen sogenannten grauen Pass, der damals für die Staatsbürger der Sowjetunion ausgegeben worden ist. Der graue Pass ist am bequemsten, denn damit kann man von Lissabon nach Wladiwostok reisen, ohne Visa beantragen zu müssen. Aber das sind meistens ältere Leute. Mit russischen Staatsbürgern haben wir ein zusätzliches Problem: In den vergangenen Jahren wollten viele von ihnen die russische Staatsbürgerschaft abgeben. Aber sie können es nicht, weil der russische Staat zustimmen muss.
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Mit Riho Terras sprachen Frauke Niemeyer und Lea Verstl