Ein Coronavirus (Computerillustration): Atemwegsviren können laut den Erkenntnissen der Forscher schlafende Krebszellen in der Lunge aktivieren
(Bild: Andrii Vodolazhskyi/Shutterstock.com)
Forscher zeigen direkten Zusammenhang zwischen Covid-19, Grippe und dem Erwachen schlafender Brustkrebszellen. Daten bestätigen erhöhtes Sterberisiko für Krebspatienten.
Atemwegsinfektionen wie Covid-19 und Grippe können ruhende Brustkrebszellen in der Lunge aktivieren und so neue Metastasen auslösen. Das zeigt eine internationale Studie von Forschern der University of Colorado Anschutz Medical Campus, des Montefiore Einstein Comprehensive Cancer Center und der Utrecht University, die im Fachjournal Nature veröffentlicht wurde.
Die Wissenschaftler um James DeGregori von der University of Colorado und Julio Aguirre-Ghiso vom Albert Einstein College of Medicine lieferten erstmals direkte Belege dafür, dass gewöhnliche Atemwegsinfekte schlafende Krebszellen wecken können.
Ihre Erkenntnisse aus Mäuseversuchen werden durch Daten von Krebsüberlebenden gestützt, die nach einer SARS-CoV-2-Infektion häufiger an Krebs starben.
Entzündungsprotein als Schlüssel
„Unsere Erkenntnisse zeigen, dass Menschen mit einer Krebsvorgeschichte davon profitieren könnten, Vorsichtsmaßnahmen gegen Atemwegsviren zu treffen, etwa durch Impfungen“, erklärte Aguirre-Ghiso, Direktor des Cancer Dormancy Institute am Montefiore Einstein Comprehensive Cancer Center.
Die Forscher testeten ihre Hypothese an speziellen Mäusemodellen für metastasierenden Brustkrebs, die ruhende Krebszellen in der Lunge enthalten und damit einem wichtigen Merkmal der Krankheit beim Menschen entsprechen. Sowohl SARS-CoV-2 als auch Grippeviren lösten das Erwachen der schlafenden Zellen aus, die sich innerhalb weniger Tage massiv vermehrten und binnen zwei Wochen sichtbare Metastasen bildeten.
„Ruhende Krebszellen sind wie Glut in einem verlassenen Lagerfeuer, und Atemwegsviren sind wie ein starker Wind, der die Flammen wieder entfacht“, beschrieb DeGregori den Vorgang. Molekulare Analysen zeigten, dass das Erwachen der ruhenden Zellen durch Interleukin-6 (IL-6) gesteuert wird, ein Protein, das Immunzellen als Reaktion auf Infektionen oder Verletzungen freisetzen.
„Die Identifizierung von IL-6 als wichtiger Vermittler beim Erwecken ruhender Krebszellen legt nahe, dass IL-6-Hemmer oder andere gezielte Immuntherapien das Wiederauftreten von Metastasen nach Virusinfektionen verhindern oder verringern könnten“, sagte Aguirre-Ghiso.
Doppeltes Sterberisiko bei Covid-19
Die Covid-19-Pandemie bot eine einzigartige Gelegenheit, die Auswirkungen von Atemwegsinfektionen auf das Fortschreiten von Krebs zu untersuchen. Das Forschungsteam analysierte zwei große Datenbanken und fand Belege für ihre Hypothese, dass Atemwegsinfekte bei Krebspatienten in Remission mit Metastasen verknüpft sind.
Forscher der Utrecht University und des Imperial College London untersuchten anhand der UK Biobank, ob eine Covid-19-Infektion das Risiko krebsbedingter Sterblichkeit bei Teilnehmern mit Krebs erhöhte. Sie konzentrierten sich auf Krebsüberlebende, die mindestens fünf Jahre vor der Pandemie diagnostiziert worden waren und sich daher wahrscheinlich in Remission befanden.
Von 487 Personen, die positiv auf Covid-19 getestet wurden, verglichen sie diese mit 4.350 passenden Kontrollen, die negativ getestet hatten. Nach Ausschluss von Krebspatienten, die an Covid-19 starben, stellten die Forscher fest, dass Krebspatienten mit positivem Covid-19-Test ein fast doppelt so hohes Risiko hatten, an Krebs zu sterben, verglichen mit Krebspatienten mit negativem Test.
„Der Effekt war im ersten Jahr nach der Infektion am stärksten ausgeprägt“, sagte Roel Vermeulen von der Utrecht University. Eine zweite Bevölkerungsstudie anhand der US-amerikanischen Flatiron Health-Datenbank untersuchte weibliche Brustkrebspatientinnen in 280 US-Krebskliniken.
Forscher verglichen die Häufigkeit von Lungenmetastasen zwischen Covid-19-negativen und Covid-19-positiven Patientinnen (36.216 beziehungsweise 532 Patientinnen). Während der etwa 52-monatigen Nachbeobachtungszeit hatten Patientinnen mit Covid-19 ein fast 50 Prozent höheres Risiko für metastasierende Ausbreitung in die Lunge als Brustkrebspatientinnen ohne Covid-19-Diagnose.
Neue Behandlungsansätze möglich
„Unsere Erkenntnisse deuten darauf hin, dass Krebsüberlebende nach häufigen Atemwegsinfektionen einem erhöhten Risiko für metastasierende Rückfälle ausgesetzt sein könnten“, sagte Vermeulen.
„Es ist wichtig zu bemerken, dass sich unsere Studie auf den Zeitraum vor der Verfügbarkeit von Covid-19-Impfstoffen konzentrierte.“ Die Ergebnisse könnten zu neuen Behandlungen und Empfehlungen für Krebsüberlebende führen, wie Mikala Egeblad von der Johns Hopkins School of Medicine erklärte. Ärzte haben bereits Behandlungen gegen IL-6 eingesetzt, um Entzündungen bei Menschen mit schwerem Covid-19 zu dämpfen.
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Künftige Forschung sollte die Wirksamkeit solcher Medikamente zur Verhinderung von Krebsrückfällen untersuchen.
„Durch das Verständnis der zugrundeliegenden Mechanismen werden wir hart daran arbeiten, Interventionen zu entwickeln, die das Risiko metastatischer Progression bei Krebsüberlebenden begrenzen können, die Atemwegsinfektionen erleiden“, sagte DeGregori.
„Wir planen auch, unsere Analysen sowohl in Tiermodellen als auch durch Auswertung klinischer Daten auf andere Krebsarten und andere Orte metastatischer Erkrankungen auszuweiten.“ Bis Wissenschaftler mehr Antworten haben, wird Krebsüberlebenden empfohlen, zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen zur Vermeidung von Atemwegsinfektionen zu treffen und Impfungen gegen Erreger wie SARS-CoV-2 und Grippeviren in Betracht zu ziehen, so DeGregori.