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Christel Vollbrecht (1898-1988), Großmutter von Hubertus Meyer-Burckhardt). © Foto: Heyne-Verlag/NH
Kassels Promi Hubertus Meyer-Burckhardt hat ein lustiges, bewegendes Buch über seine Kasseler Großmutter geschrieben und liest daraus.
In der Bar des Renthofs bestellt Fernsehmann und Autor Hubertus Meyer-Burckhardt einen Tee zum Gespräch und erzählt, dass er am Vorabend dort ein Ehepaar aus London getroffen hat, mit ihnen ins Gespräch kam und begeistert war von der Souveränität des Smalltalks, die den Briten eigen ist. Warum können die das nur so gut? Und was ist der Kern von Smalltalk? Das ist Eleganz, so sein Fazit.
Sein Buch „Die Sonne scheint immer, für die Wolken kann ich nichts“ erzählt von seiner Großmutter Christel Vollbrecht, mit der er in seinen Jugendjahren in Kassel viel Zeit verbrachte und von ihr fürs Leben lernte. Er nannte sie Osi. Am 8. September liest er in der Hofbuchhandlung Vietor.
Herr Meyer-Burckhardt, wie kam es, dass Ihre verstorbene Großmutter sich wieder in Ihrem Leben eingenistet hat?
In mir wuchs der Wunsch, der Frage nachzugehen, wer hat Dich als Kind am meisten inspiriert – nicht unbedingt am meisten geliebt? Niemand hat mich so beeinflusst wie meine Großmutter. In der Menschwerdung, in der Persönlichkeitswerdung. Ich bin in ein Alter gekommen, wo man Bilanz zieht. Und dazu kommt die Frage: Haben wir eine Entscheidungsfreiheit? Wir werden als Kind durch so viele Faktoren beeinflusst, der Spielraum, einen eigenen Weg zu wählen, ist kleiner, als wir das annehmen.
Hatten Sie als Kind eine Ahnung, dass Ihre Großmutter Sie so prägt?
Ich hatte das Gefühl, dass sie anders ist als alle anderen. Sie war unkonventionell. Sehr großzügig, humorvoll, pointensicher. Sagt Ihnen die Weinstube Boos noch etwas?
Klar. Wilhelmshöher Allee.
Da hat sie Hof gehalten. Sie war abenteuerlustig. Sie hat immer gesagt, Bausparer kann ich nicht leiden, die schwänzen das Abenteuer. Sie hatte die Gabe, sich das Leben so zu bauen, dass es ihr Spaß macht.
Findet man das als Teenager ein bisschen peinlich?
Mal so mal so. Ich war Statist am Staatstheater und sie hat mich gebeten, beim Intendanten Peter Löffler einen Termin für sie zum Vortanzen auszumachen. Ich war 16 und habe gesagt, ich werde das nicht machen. Heute denke ich, warum eigentlich nicht? Sie dachte, Ausdruckstanz, das kann ich doch mal versuchen. Sie konnte in der Weinstube Boos während des Essens aufstehen und tanzen. Da war sie hemmungslos. Als ich mit ihr einmal in ein Gartenrestaurant ging, sah sie einen Mann mit weißen Socken und sagte ihm: Das hat keinen Stil. Ihr Berliner Dialekt milderte das. Meine Großmutter vermochte es, Menschen so zu beleidigen, dass die sich trotzdem geschmeichelt fühlten, nur weil sie das Wort an sie richtete.
Wie ist sie vorgegangen?
Sie hat sich Formulierungen auf Karteikarten aufgeschrieben. Bemerkungen, die jemand im Vorbeigehen gesagt hatte. Sie war eine Standup-Queen, auch wenn man das Wort damals nicht kannte.
Was hat sie dazu befähigt?
Das hat der liebe Gott ihr geschenkt. Wenn du als kleines Kind geliebt wirst, bist du zu tollkühneren Dingen fähig als wenn du gehört hast, du kannst nichts. Sie muss eine große emotionale Substanz mitbekommen haben. Eine Frau, die zwei Weltkriege überlebt hat. Die als Bürgertochter begann und in einer Sozialwohnung geendet ist, in der Wilhelmshöher Allee. Sie wohnte dort allerdings wie eine Königin, etwas Glamour war immer dabei.
Wie haben Sie Ihren Alltag mit der Oma verbracht?
Wenn ich Sorgen hatte, Fahrrad geklaut, Lehrer doof, Freundin liebt mich nicht, was man mit 14 so hat, war ihre Antwort: Jungchen, wat willste, det ist das Leben. Wo sie recht hat. Sie hat einmal in mein Leben direkt eingegriffen.
Wie das?
Auf dem Messeplatz war der Zirkus. Meine Großmutter hat mich mitgenommen. Als ich diese Wohnwagen der Artisten sah, war es um mich geschehen. Ich wollte gar nicht mehr in die Arena, ich wollte zu den Artisten. Die Charaktereigenschaft, die mich am meisten auszeichnet bis heute, ist das Fernweh. Der beste Freund meiner Großmutter war der Globus. Manchmal ist sie mit dem D-Zug nach Würzburg gefahren und kam dann mit einer Flasche Wein oder Käse zurück.
Hat sie sich auch politisch geäußert?
Sie war konservativ, hat aber die Rechten gehasst. Als in der Weinstube Boos jemand gesagt hat, dürfen wir nicht mal wieder auf das deutsche Volk stolz sein, hat sie erwidert: Junger Mann, wenn sie unbedingt auf ihr Volk stolz sein wollen, empfehle ich ihnen den Beruf des Imkers. Das hat die einfach so rausgehauen. Sie hat es sich nie verziehen, dass sie in der NS-Zeit den Juden nicht geholfen hat. Mit Respekt und Reue saß sie onduliert und im Kostüm vor „Dalli Dalli“ mit Hans Rosenthal. Und sie hat in den 70ern recherchiert, welche Geschäfte jüdische Inhaber hatten, und hat dort eingekauft. Und sie sagte immer, wenn du einen Krieg verlierst, dann ist Neese. Heißt: einfach Klappe halten.
Können Sie sich noch an viele Begebenheiten und Aussprüche erinnern?
Ja, aber meine Großmutter hatte auch nichts gegen eine gute Schwindelei, die unterhalt㈠samer sein konnte als die pure Wahrheit. Ihr letzter Satz war: Sei nicht zu spießig in deiner Ehrlichkeit.
Was waren Ihre Quellen?
Ich habe Bücher von ihr, in denen waren Kommentare drin. Und ich hatte so Kalender von der Shell-Tankstelle, die habe ich für Notizen genutzt, zum Beispiel, wenn ich einen tollen Film gesehen habe. Da stand auch: Osi erzählt von der Pediküre. Meine Notizen waren nicht reflektierend, wie man es mit 50 macht, wenn man etwas vom Leben versteht.
Pediküre?
Meine Großmutter hat mich geschult. Wenn wir im Restaurant Pinocchio waren, hat sie mich aufmerksam gemacht, guck mal, dieser junge Mann hat gepflegte Hände. Im Sommer hat sie Leute in Sandalen angesprochen und ihnen Gutscheine für eine Pediküre zugesteckt: Tut ihnen ganz gut. Ich gebe zu, ich habe mit Füßen und Händen auch eine Macke.
Sicher ein hilfreicher Hinweis für Jungerwachsene.
Meine Großmutter hatte ein ganz traditionelles Männerbild: John Wayne. Aber sie wollte auch, dass Frauen ihr Geld selber verdienen. Sie hat meinen Respekt, denn sie war menschlich und humorvoll.
Wenn Sie Geschichten Ihrer Osi erzählen: Wie viel Freiheit erlauben Sie sich?
Ich habe nichts geschrieben, wo meine Großmutter sagen würde, Kleener, das stimmt nicht. Aber ich habe Dinge aus der Erinnerung geschrieben.
Haben Sie ein Beispiel?
Wir sind zur Eröffnung des Elbtunnels gefahren. Mitte der 70er. Da war sie geradezu exaltiert. Dann habe ich sie um 11 Uhr in Hamburg abgesetzt und um 16 wieder eingesammelt. Ich schreibe im Buch, ich weiß nicht, was sie gemacht hat, ich weiß es aber. Das ist nicht korrekt. Aber Diskretion.
Was hat sie geprägt?
1898 geboren, hat sie zwei Weltkriege mitgemacht, einen Mann, der im Ersten Weltkrieg einen Kopfschuss erlitt. 1939/40 sind sie in Kassel angekommen, sie wollten aber weiter Richtung französische Grenze. Sie war überzeugt: Wer Wein trinkt, wird kein Nazi.
Die Art Ihrer Osi, sich mit Leuten zu verbinden, Nachbarn auf eine Stulle reinbitten oder in der Weinstube auf Leute zugehen, ist weit weg von heute, wo man sich einigelt vor dem Handy. Wie blicken Sie auf diese Entwicklung?
Es gab damals viel weniger Kommunikationsmöglichkeiten. Man ging häufiger in die Kneipe. Meine Osi hat immer darauf bestanden, dass ich ungesund esse. Vernünftige Leute haben Angst vorm Leben. Als mir im Waldhotel Schäferberg durch die Mischung Bockwürstchen und Bienenstich mal schlecht wurde, reichte sie mir verschwörerisch ein Underberg-Fläschchen. Da war ich 13. Bei meinen Großeltern stand immer eine Flasche Wein – ich würde sagen, Humor und Alkohol haben diese Ehe zusammengehalten.
Die Generation war kriegstraumatisiert.
Ja, es gab keine Therapeuten, meine Osi hat oft erzählt, dass sie verschüttet war. Ich konnte das Wort als Jugendlicher nicht erfassen. Die Deutschen waren außerdem traumatisiert, weil sie Hitler nachgelaufen waren. Es gab das Gefühl, das war ja Hitlerdeutschland, das war irgendwie ein anderes Land. Aber es waren nun mal die Deutschen, die ihn gewählt haben. So ein Denken hat meine Großmutter immer ganz fuchsig gemacht. Det war ooch Deutschland.
Worauf reagieren die Leute bei Ihren Lesungen am meisten?
Dass meine Großmutter und damit das Buch Zuversicht und Optimismus ausstrahlen. Dass sie sich was getraut hat, sie war cool, Leute sagen mir, wir seien heute so verklemmt.
Woran würden Sie das festmachen?
Uns fehlt die Leichtigkeit des Seins. So eine Haltung, „komm, wir machen heute mal einen drauf“. Neulich sagte mir ein Soziologe, unsere Zeit ist davon geprägt, dass wir die Unvernunft abgeschafft haben.
Wir trinken Smoothies statt Weißburgunder.
Optimieren uns. Das ist ja alles auch gut. Meine Großmutter hat bis 90 den deutschen Winzern auf die Beine geholfen und täglich eine Packung Lord geraucht, die in der flachen Packung. Stichwort Unvernunft.
Sie sagen ja, Mut und Unerschrockenheit waren womöglich die herausstechendsten Eigenschaften Ihrer Großmutter.
Das ist die Voraussetzung, glücklich zu werden und sein eigenes Leben zu finden. Sie hat gesagt: Wenn de richtig leben willst, biste manchmal peinlich. Als ich mich nicht traute, ein Mädchen anzurufen, weil sie vielleicht nicht mit mir reden will, hat sie gesagt, Jungchen, det kann passieren. Wenn du leben willst, kannst du nicht vermeiden, dass du mal peinlich bist. Sie hat ermuntert zum Leben. Ertüchtigt. Wir haben heute weniger die Fähigkeit zur puren Freude.
Ist Freude denn peinlich?
Vielleicht sind wir zu verwöhnt. Von der Stabilität unserer Existenz. Was ja gut ist. Aber es führt zu wenig ins Abenteuer. Die Euphorie entsteht eher, wenn die Amplituden größer sind – ich verliere etwas, ich gewinne etwas.
Wie kann man Mut und Unerschrockenheit Ihrer Großmutter erlernen?
Jetzt wird‘s pathetisch. Ich muss Menschen mögen und an sie und ihre guten Seiten glauben. Aber es gibt einen Unterschied zu früher.
Der wäre?
Immer haben die Jüngeren von den Älteren lernen können, aber das ist jetzt umgekehrt. Gerade bei allem, was technologisch möglich ist. Schon die Globalisierung der Gehirne und der Lebenserfahrungen sind etwas Neues.
Können die Jungen nicht trotzdem viel von Älteren lernen?
Ich bin neugierig, wohin die die Welt führen. Ich habe im Schnitt noch zehn Jahre, ich bin 69. Es ist die größte Übung, zu lernen, nicht zu urteilen.
Wie machen Sie das?
Ich beobachte und frage. Ich bin mir bewusst, dass alte Ideen immer verdrängt wurden.
Hat Ihnen auch das Ihre Großmutter vermittelt?
Ihr größtes Erbe in mir ist, am Neuen und an der Ferne interessiert zu sein.
Wie blicken Sie auf Kassel?
Es war für mich die Stadt der ersten Male. Von dort das erste Mal in die Welt aufgebrochen, erstes Mal Sex, das erste eigene Auto. Habe hier immer Melancholie in mir. Als ob Sie einen Menschen treffen, der früher wichtig war. Sie mögen ihn noch, aber man ist in unterschiedliche Richtungen gegangen.