Er ist wieder da, der aggressive europäische Antisemitismus. Auch die historischen Tatsachen sind zum Gegenstand von Verdrehungen geworden. Eine vierteilige Artikelreihe betrachtet die Ursachen des heutigen Konfliktes im Vorderen Orient.
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Der britische Premier Keir Starmer hat jede Menge Probleme im eigenen Land. Anerkennung sucht er in der Außenpolitik und ist neben dem Franzosen Emmanuel Macron treibende Kraft der antiisraelischen Politikwende in Europa. Warum?
Neben aktuellen hat das historische Wurzeln, denn der Konflikt ist ohne das Handeln Großbritanniens zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht denkbar. Mit Israel hat man auf der Insel eine Rechnung offen, und das ist tief im politischen Unterbewusstsein verankert.
Giftige Versprechen
Das 19. Jahrhundert kannte keine britische Palästina-Politik. Es kannte überhaupt keine Palästina-Politik, weil es so etwas wie „Palästina“ nicht gab. Die meisten Großmächte außer Frankreich trieben nur Politik mit dem Osmanischen Reich, zu dessen Bestand der Vordere Orient gehörte. Bestimmende für die britische Politik war Konkurrenz mit Russland in der Region. Britische Regierungen waren bis 1915 traditionell daran interessiert, das Osmanische Reich als Gegengewicht zum Zarenreich zu erhalten und gleichzeitig so viel wie möglich Einfluss auf seine Politik auszuüben, indem man verschiedene Ethnien des Vielvölkerstaates besonders unterstütze.
Das alles änderte sich mit dem Kriegseintritt der Osmanen auf deutscher Seite in den Ersten Weltkrieg. Nun ging es um die Ausschaltung der Türkei. Doch die Osmanen wehrten sich mit deutscher Hilfe zunächst höchst erfolgreich gegen die britische Invasion. An den Dardanellen erlebten die eine schwere Niederlage. Um den osmanischen Widerstand auch von innen zu brechen, versprach London sowohl der jüdischen Gemeinschaft („Balfour-Deklaration“) als auch den Arabern („Arabischer Aufstand“/„Lawrence von Arabien“) Zugeständnisse und sogar Staatlichkeit.
Aber erst 1918 gelang es einer aus Ägypten vorrückenden Armee, den osmanischen Widerstand zu brechen. Hauptkampfgebiete waren das heutige Israel und Gaza. Die Eroberung Jerusalems durch die Briten geriet zu einem gewaltigen Propaganda-Coup, der das Heilige Land nachhaltig im Bewusstsein der britischen Öffentlichkeit verankerte.
Desaströse britische Politik
Nach dem Krieg ging es jedoch zunächst um Geopolitik. London war bestrebt, so viel wie möglich Territorium auf dem Weg zu seiner Kolonie Indien zu kontrollieren. Der Küstenbereich des Heiligen Landes hatte seit Jahrtausenden eine Brückenfunktion. Das Völkerbundsmandat von 1920 zementierte diese Kontrolle – und es geriet zum Desaster britischer Kolonialpolitik.
Zunächst entzündete sich der Konflikt um jüdische Landkäufe. Im Mandatsgebiet gehörte mehr als 70 Prozent des Landes dem Staat. Der Rest war Eigentum von Großgrundbesitzern, die allerdings fast nie auf ihrem Land lebten, sondern in den großen Städten. Das wiederum hatte zum Niedergang der Landwirtschaft geführt. Großgrundbesitzer verkauften ihr nutzloses Land also bereitwillig an jüdische Käufer, die es mit modernen Methoden nutzbar machten.
Hinzu kam seit 1918 beschleunigte jüdische Einwanderung. Gleichzeitig wanderten seit 1922 mehrere Hunderttausend Araber aus Ägypten, Transjordanien und dem Libanon ein – angezogen von der Prosperität jüdischer Unternehmen. Doch die Konflikte verschärften sich. 1920, 1921, 1929 und 1936 fielen Araber über ihre jüdischen Nachbarn her und massakrierten sie. Die Vernichtung der jüdischen Gemeinde in Hebron 1929 erinnerte in ihrer Brutalität an die Ereignisse des 7. Oktober 2023.
Londons antijüdische Wende
Die Briten reagierten mit einer antijüdischen Wende: 1939 schränkten sie Landverkäufe an Juden und die jüdische Einwanderung massiv ein – ausgerechnet mitten im beginnenden Holocaust. Die jüdische Gemeinschaft hielt im Rahmen des Kampfes gegen Nazideutschland zunächst eine Art Burgfrieden ein. Erst Ende 1944 begannen jüdische Milizen gegen die Besatzungsmacht vorzugehen. 1947 war die Lage für die Briten schließlich unhaltbar. Indien war auf dem Weg in die Unabhängigkeit, und Großbritannien vom Krieg erschöpft. Regelrecht panisch flüchteten die britischen Truppen, die letzten im Juni 1948. Es folgten arabische Invasion und israelischer Sieg.
In den kommenden Jahren verhängte London ein Quasi-Waffenembargo gegen Israel, das sich in ständige Kämpfe mit seinen arabischen Nachbarn verwickelt sah. Trotzdem kam es 1956 zu gemeinsamer Aktion gegen Ägypten, etwas, das angesichts der gespannten Verhältnisse eigentlich undenkbar war. Ägyptens Präsident Nassar hatte den Suezkanal verstaatlicht. Das berührte britische Interessen. Gleichzeitig hatte er sich von der Sowjetunion aufrüsten lassen. Das war eine existenzielle Bedrohung Israels. Nur diese Überschneidung der Interessen machte gemeinsames Agieren gegen Ägypten möglich.
Die nächsten 50 Jahre waren dann jedoch gekennzeichnet vom sinkenden internationalen Gewicht Großbritanniens, das Israel gelegentlich unterstützte und gelegentlich kritisierte.
Antisemitismus in Mode
Und heute? Der britische Einfluss im Nahen Osten ist minimal. Keir Starmer ist jedoch in seiner Israelpolitik innenpolitisch getrieben. Massive Einwanderung aus islamischen Ländern und die damit einhergehende Popularisierung antiisraelischer Narrative hat die Wählerbasis seiner Labour-Partei verändert. 2023 hatte es die höchste Anzahl an antisemitischen Vorfällen seit Beginn der Erfassung gegeben.
In der Partei selbst waren und sind antisemitische Haltungen populär. Das speiste sich vor allem aus dem linken Flügel der Partei. Man erinnere sich an den zeitweiligen Parteichef Jeremy Corbin. Starmer will also vor allem „israelkritische“ Wählerschichten an sich binden, indem er ihre Narrative in Außenpolitik übersetzt.