Die Reform-Partei könnte die nächste britische Unterhauswahl gewinnen. Einen Testlauf absolvieren die Rechtsnationalen derzeit in der Grafschaft Kent. Dort will die Gemeindepräsidentin weit mehr als die Migration senken und Geld sparen.

Von der Polizei beschlagnahmte Schlauchboote in Dover in der Grafschaft Kent: Die Lokalregierung möchte die Migrationszahlen senken, hat aber wenig Hebel zur Verfügung. Von der Polizei beschlagnahmte Schlauchboote in Dover in der Grafschaft Kent: Die Lokalregierung möchte die Migrationszahlen senken, hat aber wenig Hebel zur Verfügung.

Tolga Akmen / EPA

Im getäferten Gemeinderatssaal des Rathauses von Maidstone in der südenglischen Grafschaft Kent stand bis im Mai eine ukrainische Flagge direkt neben dem britischen Union Jack. Dann wurde Linden Kemkaran von der rechtsnationalen Partei Reform UK Gemeindepräsidentin. Sie liess die ukrainische Flagge umgehend durch jene der Grafschaft Kent ersetzen.

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«Wir sind hier, um der Bevölkerung von Kent zu dienen und nicht jener von Kiew, egal wie viel Sympathie wir für die fürchterliche Lage der Menschen in der Ukraine empfinden», sagt Linden Kemkaran knapp drei Monate später im Gespräch in ihrem Büro. Dass die neue Gemeindepräsidentin zudem anordnete, dass im Rathaus keine Regenbogenflaggen der LGBT-Bewegung mehr gehisst werden dürfen, begründet sie so: «Wir haben einen Berg von Problemen in Grossbritannien und in Kent. Darauf sollten wir uns konzentrieren, statt gute Tugenden zur Schau zu stellen.»

«Wir stehen im Schaufenster»

Kemkaran, eine ehemalige Journalistin der BBC, ist eine versierte Kommunikatorin. Sie hört aufmerksam zu und bringt ihre Antworten auf den Punkt. Das ist mit ein Grund dafür, dass sie von ihren Parteikollegen zur Gemeindepräsidentin auserkoren wurde, nachdem ihre Partei Reform UK bei der Lokalwahl Anfang Mai aus dem Stand eine Mehrheit von 57 der 88 Gemeinderatssitze gewonnen hatte.

«Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartet», erzählt sie. «Nach meiner Wahl wurde ich in dieses Büro geführt, und bereits legten mir die Beamten Geschäfte zur Entscheidung vor.» Kemkaran weiss, dass hohe Erwartungen auf ihr lasten. Reform UK regiert seit Mai in sechs britischen Gemeinden. Mit 1,6 Millionen Einwohnern gehört Kent zu den grössten und bevölkerungsreichsten Gemeinden Englands und gilt daher als wichtigster Testlauf für die Reform-Partei von Nigel Farage, der zum nächsten Premierminister avancieren will. «Wir stehen im Schaufenster», sagt Kemkaran. «Die Wähler wollen sehen, ob sie Reform UK als Regierungspartei vertrauen können.»

Kemkarans politischer Werdegang spiegelt die Verhältnisse in Kent. Vor etwa zehn Jahren trat sie der Tory-Partei bei. Doch die harten Corona-Lockdowns unter Boris Johnson und die desaströse Migrations- und Schuldenpolitik der Konservativen hätten sie enttäuscht, sagt sie. «Eines Tages im letzten Winter sagte ich mir: Es geht nicht mehr. Ich kann keiner Partei mehr angehören, die nicht weiss, wofür sie steht, und die keine Rezepte gegen das Chaos im Land hat.»

Kemkaran trat der Reform-Partei bei und liess sich als Kandidatin für die Lokalwahlen aufstellen. Die Wählerinnen und Wähler der Grafschaft Kent, die in den vergangenen dreissig Jahren zu den wichtigsten Hochburgen der Konservativen Partei gehört hatte, wandten sich von den Tories ab – und liefen in Scharen zu Reform UK über.

Reform UK profitiert vom Wahlrecht

Kent wird wegen seines fruchtbaren Bodens, der vielen Obstbäume und der grünen Landschaft auch der «Garten von England» genannt. Die Grafschaft verbindet ländliche Gegenden mit alten Seebädern und Küstenstädten wie Margate oder Dover. Wer sich in der Altstadt des Hauptorts Maidstone im Landesinneren umhört, stösst auf dieselbe Unzufriedenheit wie im ganzen Land – Unzufriedenheit über die gestiegenen Lebenskosten, die marode Infrastruktur und die vielen Migranten.

Vor dem Rathaus sagt eine ältere Frau, sie sei in Maidstone aufgewachsen und erkenne ihre eigene Heimatstadt kaum wieder. «Asylsuchende werden in Hotels untergebracht, und für uns Einheimische wird das Leben immer schlechter», schimpft sie. «Hoffentlich räumt Reform UK mit dem ganzen Chaos auf.»

Der Unmut über die Konservativen und Labour ist inzwischen so gross, dass es John Curtice für denkbar hält, dass Farage bei der wohl 2029 anstehenden Unterhauswahl Premierminister werden wird. Der Politologe der University of Strathclyde – von britischen Medien wird er gerne «Umfrage-Guru» genannt – sagt im Gespräch, das nationale Wählerpotenzial von Reform UK liege kaum viel höher als 30 Prozent. In der Vergangenheit hätte das niemals gereicht, um im britischen Mehrheitswahlrecht eine Unterhauswahl zu gewinnen.

Doch das Zweiparteiensystem erodiert gerade. Bei der nächsten Wahl könnten fünf bis sechs Parteien hohe Wähleranteile erzielen, was die Hürden für Sitzgewinne in den einzelnen Wahlkreisen senkt. «Jahrelang hat das Mehrheitswahlrecht die Konservativen und Labour bevorzugt und, anders als in vielen europäischen Ländern, den Aufstieg einer rechtsnationalen Partei verhindert», sagt Curtice. «Doch bei den Lokalwahlen war Farages Partei plötzlich so stark, dass sie vom Mehrheitswahlrecht profitierte.» In Kent gewann Reform UK mit 37 Prozent der Stimmen fast zwei Drittel aller Sitze.

Dass die Popularität von Reform UK ebenso schnell einbricht, wie sie gewachsen ist, bezweifelt Curtice. Der Partei gelinge es, jene Wähler zu mobilisieren, die 2016 für den Brexit gestimmt und 2019 Boris Johnson zum Wahlsieg verholfen hätten. Curtice spricht von sozial konservativ eingestellten Wählern, die weniger Migration und einen stärkeren National- und Sozialstaat wünschten.

Reform UK steht und fällt mit Nigel Farage. «Er hat Charisma, kann eine Geschichte erzählen und mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen», sagt Curtice. «Das alles sind Qualitäten, die dem Premierminister Keir Starmer und der Tory-Chefin Kemi Badenoch abgehen.» Farage will Straftäter nach El Salvador abschieben, er propagiert die Netto-Null-Migration und zeigt Verständnis für Proteste vor Hotels für Asylsuchende. «Dennoch grenzt er sich klar von rechtsextremen Kräften wie der British National Party ab», sagt Curtice.

Schwierige Regierungsverantwortung

Auch Linden Kemkaran spart in der Migrationsdebatte nicht mit harten Worten. «Unser Land betreibt seit 25 Jahren eine Politik der Massenimmigration», sagt sie. Die seit dem Brexit stark zunehmende Zahl von Bootsmigranten, die über den Ärmelkanal an die Küste von Kent gelangen, bezeichnet sie als «Invasion». Kent ist laut ihren Worten eine «Front-Gemeinde».

Linden Kemkaran

Im Kontrast zur Kriegsrhetorik stehen Kemkarans effektive Kompetenzen und Möglichkeiten als Lokalpolitikerin. Die Gemeinde kann keine Boote an der Landung hindern und hat eine gesetzliche Pflicht, im Auftrag der Regierung in Westminster Asylsuchende unterzubringen. Kemkaran prüft nun, ob sie die Finanzierung von Sprachkursen für Asylsuchende streichen kann.

Ein Wahlversprechen waren Einsparungen im Gemeindehaushalt und tiefere Steuern. Reform UK hat sich von Elon Musk in Washington inspirieren lassen und ein «Doge»-Team geschaffen, das in den von der Partei regierten Gemeinden radikale Kostensenkungen durchsetzen soll. «Doch da mussten wir die Pausetaste drücken, da das Team von niemandem gewählt wurde und wir sicherstellen müssen, dass wir alle Gesetze einhalten», sagt Kemkaran.

Auch ihr Plan, die exorbitanten Kosten für den Transport von Schulkindern mit speziellen Bedürfnissen von jährlich rund 100 Millionen Pfund zu senken, gestaltet sich wegen langfristiger Verträge mit Transportfirmen schwieriger als erhofft. Für die grössten Ausgabenposten der Gemeinde wie die Betreuung von Betagten oder Behinderten gibt es gesetzliche Verpflichtungen im nationalen Recht.

«Natürlich, wir regieren nicht in Westminster, und das ist manchmal frustrierend», sagt Kemkaran. «Aber ich werde alle Probleme offen ansprechen, so dass die Leute sehen, dass wir ihre Interessen vertreten und nicht jene von Frankreich oder Davos.»

Auf einem Regal in Kemkarans Büro liegen weisse Dächlikappen mit dem Autogramm von Farage. Es seien Geschenke für Parteispender, sagt die Gemeindepräsidentin. Hat sie nicht die Befürchtung, dass Nigel Farages Versprechen an den politischen Realitäten und Sachzwängen zu zerschellen drohen, wenn er dereinst tatsächlich britischer Regierungschef wird? «Wenn Reform UK nicht an die Macht kommt, ist dieses Land verloren», sagt Kemkaran dazu. Und ergänzt: «Nigel Farage ist unsere letzte Hoffnung.»