Der Münchner Marienplatz ist fast menschenleer an diesem Morgen des 8. August. Den größten Lärm machen die Lastwagen und Transporter der Lieferanten. Nur um die Mariensäule wird eine Gruppe von Leuten mit Rucksäcken immer größer. Zwischen 40 und 50 Personen kommen schließlich zusammen, um sich traditionell am 8.8. um 8.08 Uhr auf eine lange Wanderung zu machen. Vor ihnen liegen mehr als 550 Kilometer und 28 Etappen quer durch die Alpen bis nach Venedig.

Ludwig Graßler, der am 2. August 100 Jahre alt geworden wäre und viele Jahre in Wolfratshausen lebte, ist diese Route 1974 erstmals gegangen und hat über seinen „Traumpfad“ einen Wanderführer geschrieben, der mehrfach aufgelegt worden ist. „Die Zahl Acht hatte für Ludwig Graßler etwas Magisches, sie stand für die unendlichen Möglichkeiten des Weges“, sagt der Autor Stefan Lenz, der seit mehr als zwei Jahrzehnten in Graßlers Nachfolge einen Wanderführer für die Tour von München nach Venedig verfasst. Gemeinsam mit Karl „Charlie“ Wammetsberger, der mit Graßler eng befreundet war, ist Lenz auf den Marienplatz gekommen, um die Fernwanderer auf ihre Tour zu verabschieden.

Zu ihnen zählt der 24-jährige Mehdi Amiri aus Köln. Der gebürtige Afghane hat sich seinen dunklen Bart akkurat in Form gestutzt und strahlt Selbstvertrauen und Stärke aus. „Ich freue mich auf den Trip“, sagt er. „Beim Wandern kann ich einfach meine Gedanken rauslassen, mich auf eine Sache konzentrieren.“ Das ist ihm wichtig.

Seit vier Jahren arbeite er als Altenpfleger, erzählt Amiri. Die ständig wechselnden Schicht- und Notdienste hätten ihn an seine körperlichen Grenzen gebracht. Um nicht krank zu werden, habe er eine Pause gebraucht. „Für den Traumpfad habe ich mir einen Monat Zeit genommen“, sagt er. „Ich bin auf die Idee gekommen, dass ich das machen muss, bevor es mir gesundheitlich wirklich schlecht geht.“

Der 24-jährige Mehdi Amiri aus Köln arbeitet als Altenpfleger und hat sich für den Traumpfad einen Monat frei genommen.Der 24-jährige Mehdi Amiri aus Köln arbeitet als Altenpfleger und hat sich für den Traumpfad einen Monat frei genommen. (Foto: Benjamin Engel)

In seinem Leben musste Mehdi Amiri allerdings weitaus größere Schwierigkeiten meistern. Er floh als Jugendlicher aus Afghanistan und erreichte über die Türkei vor zehn Jahren zu Fuß Deutschland. Seitdem lebt er in der Bundesrepublik. Nun überlege er, sich beruflich neu zu orientieren. „Ich sehe mich in der Jugendhilfe“, sagt er. „Ich spreche Türkisch, Persisch und Dari. In der Integrationsarbeit, Jugendhilfe oder als Schulbegleiter kann ich mich sehr gut einbringen.“

Sportlich fit hält sich der junge Mann auf Radtouren über 120 bis 150 Kilometer. Und er wandert in der Mittelgebirgsregion des Harzes. Die Alpenüberquerung bis nach Venedig tritt er allein an. „Ich gehe mit Vergnügen los“, sagt Amiri. „Angst habe ich keine mehr.“

Einsam aber wird es wohl ohnehin für keinen der Fernwanderer auf der Route nach Venedig. Manche begegnen sich, je nach individueller Kondition und Lauftempo, immer wieder. Und auf den Hütten kommt man schnell mit anderen Gästen ins Gespräch. Auf die Begegnungen freue sie sich am meisten, sagt denn auch Birgit Lammers, die aus der Nähe von Murnau stammt. Sie ist im Alpenverein aktiv und viel in den Bergen unterwegs, wie sie sagt. Auf so einer langen Tour sei sie aber zum ersten Mal, erzählt sie.

Birgit Lammers aus der Nähe von Murnau will nur 14 Tage auf dem Fernwanderweg laufen, also etwa genau die Hälfte der Strecke.Birgit Lammers aus der Nähe von Murnau will nur 14 Tage auf dem Fernwanderweg laufen, also etwa genau die Hälfte der Strecke. (Foto: Benjamin Engel)

Birgit Lammers will allerdings nur die ersten 14 Tage des Traumpfads, also die Hälfte der Strecke, wandern. Mehr Zeit habe sie sich aus familiären und beruflichen Gründen nicht nehmen können, sagt sie. „Ich gehe einfach los und schaue, wie weit ich komme.“ Neben den Begegnungen treibe sie vor allem die Abenteuerlust auf die Tour.

Auch Lammers geht allein los. Dazu habe sie sich ganz bewusst entschieden, erklärt sie. Ihr Mann, der sie zum Marienplatz begleitet hat, kann aus beruflichen Gründen nicht mitkommen. An die ein oder andere Freundin habe sie zwar gedacht, sich aber schließlich dagegen entschieden, jemanden mitzunehmen. Denn als Duo, sagt sie, wären sie viel zu sehr auf sich selbst und ihre Befindlichkeiten bezogen gewesen.

Uwe Arnold aus Ludwigshafen hat als Frührentner viel Zeit.Uwe Arnold aus Ludwigshafen hat als Frührentner viel Zeit. (Foto: Benjamin Engel)

Die Gruppe der Fernwanderer bildet ein breites Abbild der Gesellschaft: Unterschiedliche Menschen verschiedener Altersgruppen mit je eigenen Motivationen machen sich auf den Weg. Der 59-jährige Uwe Arnold aus Ludwigshafen in der Pfalz ist bereits im Vorruhestand. Er habe vor zwei Monaten einen Fernsehbeitrag über die Verabschiedung der „Traumpfad“-Geher aus dem Jahr 2023 gesehen, sagt er. Das habe ihn motiviert, die Tour selbst zu unternehmen.

Dafür hat er sich seinen Wanderrucksack gekauft, der mit gefülltem Trinkwassersack um die zehn Kilogramm wiegt. Wer so viel Last mit sich schleppt, muss trainiert sein. Einmal im Jahr gehe er etwa zu Fuß auf die Zugspitze, sagt Arnold. Alle Aufstiegsrouten habe er inzwischen durch. Auch in diesem Jahr sei er schon auf Deutschlands höchstem Berg gewesen.

Ludwig Graßler auf einer der ersten Etappen des Fernwanderwegs 2010 an der Isar. Der Initiator des Traumpfads ist 2019 mit 94 Jahren gestorben.Ludwig Graßler auf einer der ersten Etappen des Fernwanderwegs 2010 an der Isar. Der Initiator des Traumpfads ist 2019 mit 94 Jahren gestorben. (Foto: Hartmut Pöstges)

Charlie Wammetsberger war ein Freund und Nachbar von Ludwig Graßler, der mit 94 Jahren am 22. August 2019 gestorben ist. Fünfmal ist der 77-Jährige bereits den Traumpfad von München nach Venedig gegangen. Er will die Tradition Graßlers, die Fernwanderer traditionell am 8. August aus München zu verabschieden, fortführen. Aus Anlass des 100. Geburtstags von Graßler organisiert die Stadt Wolfratshausen in der Tourist-Information am Untermarkt 10 eine kleine Ausstellung.

Davon, wie Begegnungen das eigene Leben prägen, kann auch Stefan Lenz berichten. 2002 oder 2003 habe er Graßler kennengelernt, erinnert sich Lenz. Der habe damals einen Vertrag für eine Neuauflage des Wanderführers zum Traumpfad gehabt, ihm aber erklärt, lieber wandern statt schreiben zu wollen, solange er gesund genug dafür sei. Den Vertrag für das neue Buch habe er dann von Graßler übernommen, erzählt er.

SZ Good News

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Lenz ist selbst zweimal die ganze Tour gelaufen – einmal von Venedig aus, weil es auf dem Weg nach Norden mit der Sonne im Rücken einfach die besseren Bildperspektiven gebe, wie er sagt. Den 8. August als traditionellen Aufbruchstag von München könne man auch ganz pragmatisch sehen, sagt er. Denn dann gebe es meistens eine stabile Wetterphase und weniger Hitze in den italienischen Alpen und in Venezien. Gründe, um sich auf den Weg zu machen, gibt es jedenfalls genug.