Wer sich mit Jüri Reinvere unterhält, merkt schnell, dass der estnische Komponist ein Kosmopolit ist. Kürzlich wurde er als „Komponist des Jahres“ mit dem Opus Klassik ausgezeichnet, seit 2017 lebt er in Frankfurt und fühlt sich hier sehr wohl. Frankfurt sei als alte Messe- und Händlerstadt „sehr durchlässig“, man komme schnell mit Menschen in Kontakt. Die Umgebung sei historisch und landschaftlich reich, das kulturelle Angebot groß: „Ich kann den Minderwertigkeitskomplex gegenüber Berlin nicht verstehen“, sagt Reinvere, der zuvor viele Jahre in der Hauptstadt gelebt hat und viele andere Städte und Länder kennt.
Er spricht sieben Sprachen, „vier davon fast täglich“, und leitet das aus der Tradition seiner Heimat her. Estland sei nicht zuletzt von den Großmächten Deutschland und Russland vielfältig geprägt.
1971 wurde er in Tallinn geboren, er wuchs „in der Zeit der schlimmsten Russifizierung“ auf. „Das war alles sehr bedrückend, endloses Grau, endlose Angst“, beschreibt er: „Arrogante Russen marschierten herum, beleidigten Esten, und wir mussten alles erdulden.“ Dass die Esten ihre Muttersprache verlieren sollten, gehörte zum Plan. Vermeintliches Fehlverhalten konnte tödlich enden: „Wenn man nur mit einem Gummiboot paddelte, konnte man schon eine Kugel in den Kopf bekommen.“
„Wir ernährten uns von schlechten Kartoffeln“
Unter widrigen Umständen bahnte Reinvere sich seinen Weg zur Musik und zum Komponieren mehr oder weniger selbst. Eigentlich war ihm anderes vorbestimmt: „Meine Mutter war Sportschwimmerin, ich sollte genauso werden wie sie.“ Seine sprachlich-musische Neigung scheint aber doch ausgeprägter gewesen zu sein. Dass er gut Englisch konnte, fiel schon im Kindergarten auf, so kam er auf ein English College. An der Musikschule aber, die er der Schwimmschule vorzog, interessierte ihn vor allem, „dass man dort Klavier spielen konnte“. Mit den vokalen Fähigkeiten sei es bei ihm nämlich bis heute nicht weit her: „Sehr untypisch für einen Esten kann ich gar nicht singen.“
Am Klavier zu improvisieren und komponieren, faszinierte Reinvere hingegen sofort. Schon mit sechs Jahren habe er gewusst: „Das ist mein Ding.“ Befördert wurde sein Ansinnen nicht: „Die Musikschultanten fanden das nicht angemessen. Sie sagten, Komponist zu sein, ist etwas für ganz, ganz hohe Menschen‚ die Zukunft muss zeigen, ob du erwählt bist.“
Es gab dann ohnehin andere Herausforderungen: Der Hunger in der estnischen Bevölkerung wurde in den Achtzigerjahren immer schlimmer. Die produzierenden estnischen Betriebe wurden nach Moskau verlagert, erzählt Reinvere, „während wir uns von schlechten Kartoffeln und Mehlsoße ernährten“. Durch die Mangelernährung habe er Zahnprobleme bekommen. Der Zerfall der Sowjetunion zog sich hin. Aber immerhin: „Wir waren die erste Generation, die nicht zur Roten Armee musste.“
„Das schöne, beleuchtete finnische Leben“
Reinveres Familie zählte zu den Dissidenten, befürwortete die Unabhängigkeit Estlands und verfügte über zahlreiche Kontakte nach Deutschland, Russland und Amerika. Vytautas Landsbergis, der im unabhängig gewordenen Nachbarstaat Litauen Parlamentspräsident und kommissarisches Staatsoberhaupt wurde, zählte zur Bekanntschaft der Familie. Landsbergis, zuvor Professor für Musikwissenschaft, besorgte Reinvere 1990 ein Stipendium für ein Studium an der Chopin-Musikakademie in Warschau. Die immense Inflation im damaligen Polen machte aber allen Geldwert zunichte. Statt Kartoffeln gab es für Reinvere nun das immer gleiche Kernobst: „Ich ernährte mich überwiegend von Äpfeln, die ich in einem Apfelgarten stahl.“
Ganz klassisch: Ein Notenblatt mit einer im Entstehen begriffenen Partitur liegt auf Jüri Reinveres Klavier.Ben Kilb
Reinvere brauchte Devisen. Ein Angebot für eine Organistenstelle in Finnland, in einem kleinen Ort in Karelien an der Grenze zu Russland, kam ihm, der auch ein gut ausgebildeter Pianist war, da gerade recht. Es sei für ihn geradezu „ein erschütterndes Erlebnis“ gewesen, nun so viel Geld zu haben, dass er sich ein eigenes Auto kaufen konnte, über die Grenze den russischen Plattenbau und auf seiner Seite „das schöne, beleuchtete finnische Leben“ sah. „Ich entschied, ich bleibe hier“, sagt Reinvere. Er studierte an der Sibelius-Akademie in Helsinki Komposition und nebenher Theologie. 14 Jahre sollte er insgesamt in Finnland verbringen. Geld verdiente er auch als Radiojournalist, Drehbuchautor, Librettist und Lyriker.
Eine prägende Freundschaft
Als Mensch sehr geprägt habe ihn das Leben als Organist im Pfarrhaus in dem kleinen finnischen Dorf, in dem es nichts gab außer einer Bar: „Das ganze Leben floss durch das Pfarrhaus.“ Der Kontakt mit Menschen aller Art, „bunter als im Film“, ließ ihm bewusst werden, dass Kunst oft weltfremd im Elfenbeinturm entsteht. Künstlerisch prägend sollte die Freundschaft mit der 50 Jahre älteren, 2014 gestorbenen estnischen Konzertpianistin Käbi Laretei werden. Von der vormaligen Ehefrau des schwedischen Filmregisseurs Ingmar Bergman habe er gelernt, „welche künstlerischen Entscheidungen man treffen muss und für was zu kämpfen sich lohnt“.
Laretei war es auch, die ihm empfahl, nach Deutschland zu wechseln. Reinvere hatte Deutschland schon vor dem endgültigen Entschluss gut kennengelernt. Nachdem er im Jahr 2000 einen Preis beim International Rostrum of Composers, einem Forum des Internationalen Musikrats, gewonnen hatte, erhielt er von der Akademie der Künste in Berlin ein Angebot für ein längeres Projekt, das Komponisten und Choreographen zusammenführen sollte. Reinvere, der „eine immense kulturelle Verbindung“ zwischen seiner Heimat und Deutschland sieht und Estland „eine alte deutsche Kolonie“ nennt, fühlte sich gleich zu Hause. Er musste aber nach dem Projekt zunächst zurück nach Helsinki, um sein Diplom zu machen.
Inspiriert, aber allein in Berlin
2005 kehrte er nach Berlin zurück. Laretei hatte ihm von London abgeraten und gesagt: „In Deutschland kannst du der Mensch sein, der du sein willst“, erinnert sich Reinvere. Das internationale Leben in Berlin habe ihn sehr stimuliert. Dennoch sei er allein mit seinem Hund in der Wohnung gewesen und habe wenig Deutsch gesprochen. „Berlin ist ja nicht Deutschland“, sagt er. Im Land angekommen sei er erst so richtig, als er 2017 nach Frankfurt kam, wo sein deutscher Lebenspartner beruflich tätig ist.
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Zu dieser Zeit war Reinvere schon ein recht arrivierter Komponist. Als erstes großes Werk hatte er ein Requiem auf eigene Gedichte geschrieben, das 2010 in Finnland uraufgeführt wurde. Zwei Jahre lang arbeitete er danach an seiner ersten Oper „Fegefeuer“, die 2012 in Helsinki Premiere hatte, die Oper „Peer Gynt“ folgte 2014 in Oslo. Allerdings sagt Reinvere: „Opern, die du in Skandinavien machst, zählen in Deutschland so gut wie nichts.“
Opus-Klassik für „Das Narrenschiff“
Einen Erfolg brachte ihm sein 2018 entstandenes dreisätziges Orchesterwerk „Und müde vom Glück, fingen sie an zu tanzen“. Das hr-Sinfonieorchester hat es unter der Leitung seines ehemaligen Chefdirigenten Paavo Järvi im Mai 2022 in der Alten Oper aufgeführt und als hochauflösendes Video auf seinem international viel beachteten Youtube-Kanal frei zugänglich gemacht.
Für die ebenfalls vom Esten Järvi geleitete CD-Einspielung eines Orchesterwerks mit dem Estonian Festival Orchestra hat Reinvere nun den Opus Klassik erhalten: „Ship of Fools“ („Das Narrenschiff“). Reinvere war erfreut und überrascht über die Auszeichnung seines „orchestralen Scherzo“, wie er es nennt. Inspiriert wurde er durch Videoclips von Spitzenpolitikern verschiedener Länder, die sich auf Parties in Videos und Selfies aufnahmen oder in Tanzshows auftraten. Er habe das wie eine „Zeitenwende“ empfunden und seiner Komposition einen entsprechend sarkastischen, diabolischen Unterton gegeben.
Über Mangel an Arbeit, Aufträgen und Anfragen kann Reinvere derzeit nicht klagen. Im kommenden Jahr werden das Cleveland Orchestra und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks Werke von ihm aufführen. „Das Erzählerische“ bleibt ihm dabei in seiner Musik besonders wichtig – „sodass die Menschen verstehen, dass ich unsere Zeit vermittle und das, was wir gerade sind“. Das in der einst okkupierten Heimat, im finnischen Pfarrhaus und durch Laretei geprägte Kunstverständnis scheint ihn dabei auf dem Boden der Tatsachen zu halten. Dass er in seiner Gemeinde in Frankfurt-Nied gelegentlich den Organisten im Gottesdienst vertritt, passt da voll ins Bild.