Bremer fahren zum Kuren nach Farge. Das hätte damals eine Schlagzeile werden können. Oder auch: Hansestädter lassen sich vor der eigenen Haustür gesunde Luft um die Nase wehen. Weit hätten sie es zum Erholungsort nicht gehabt. Immer an der Weser entlang bis Farge-Rekum. Bis zum Luftkurort Farge-Rekum, um genau zu sein. Den sollte es vor rund hundert Jahren nämlich geben. Die Idee lag eigentlich nahe. Wo doch so viele Bremer aus der Stadt und Besucher aus dem Umland gen Farge strömten, um an dem schönen Fluss die Sommerfrische zu genießen. Wo die Strandbäder in Farge und Rekum ins erfrischende Nass lockten und wo in den schmucken Ausflugslokalen an der Wasserkante die Stühle nicht lange unbesetzt blieben. In so manchen Privathäusern wurden sogar Fremdenzimmer angeboten. Warum die Sommerfrische also nur für einen Tag genießen? Warum nicht den Koffer packen und in Farge-Rekum am idyllischen Weserstrand ein bisschen länger bleiben?
So war das in den 1920er- und 1930er-Jahren, erzählen Jörg Bolz und Arend Wessels. Beide kennen sich mit dem Blick in die Vergangenheit bestens aus. Jörg Bolz leitet im Kahnschifferhaus des Heimatvereins Farge-Rekum das Archiv. Arend Wessels ist sein Vorgänger. Bei so viel Touristenstrom und sommerlich-frischer Freude drängte sich der Gedanke förmlich auf: Farge-Rekum sollte Luftkurort werden. Mit diesem Prädikat hätte man nicht nur exponiert für sich werben können, es wäre auch Kurtaxe in die Gemeindekasse geflossen. Dass es letztlich nur bei der Idee blieb und der immerhin zehn Jahre währende Traum vom gesundheitsfördernden Farger Klima ein reines Luftschloss war, lässt sich kurz und knapp und im buchstäblichen Sinne mit den Worten „So’n Schiet“ beschreiben.
Dabei sahen die Bedingungen geradezu paradiesisch aus. Die Archivunterlagen beim Heimatverein Farge-Rekum berichten von einem „Strand mit schönem weißen Sand“ in Farge und Rekum. Aufgespült worden war er im Zuge der Weservertiefungen. Allein in Rekum war der Strand zwei Kilometer lang. Im Grunde reichte der Weserstrand damals noch von Vegesack bis Harriersand, weiß Jörg Bolz. Die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft (DLRG) hatte am Ufer in Farge einen wachsamen Blick auf die Badegäste, unter denen auch nicht wenige Nichtschwimmer waren. Auch Ordnung musste sein. „Zu Saisonbeginn wurde der Strand abgeharkt und sauber gemacht.“ In den Unterlagen des Heimatarchivs ist zu lesen, dass der örtliche Heimatverein die Gemeinde im Jahr 1934 aufforderte, „für die mehreren Tausend Besucher der Strände in Farge Toiletten aufzubauen“. Das Strandleben boomte. Die Wirte frohlockten. Die von Charlotte Freiwald eröffnete alkoholfreie Gaststätte erlebte ebenso großen Zuspruch wie der Sommergarten am Gasthaus „Am Weserstrand“.
Wer nach Farge kam, kehrte auch im Sommergarten der Gaststätte ”Am Weserstrand” ein.
Foto:
Heimatverein Farge-Rekum
Am Fähranleger in Farge, den auch die Fahrgastschiffe mit Besuchern aus der Stadt ansteuerten, prangte in großen Lettern das Schild „Strandbad Farge“. Ein Foto zeigt sommerlich gekleidete Damen und Herren, die auf dem Anleger ans Ufer strömen. Ein anderes Foto zeigt Badegäste, wie sie vom eigens aufgebauten Sprungturm in die Fluten springen. Auch in Rekum prangte über dem Fähranlager ein Strandbad-Schild. Dass es dort einen eigenen Anleger gab, den ebenfalls die Ausflugsdampfer direkt von Bremen aus ansteuern konnten, sei dem „rührigen Wirt Friedrich Freese“ zu verdanken gewesen. Er betrieb seit 1933 die alkoholfreie Gaststätte „Weserlust“ mit Sommergarten und versorgte die Gäste mit Speisen und Getränken. Um den Fremdenverkehr anzukurbeln und „um den heimatlichen Ort in einem guten Licht dastehen zu lassen“, brachte der Heimatverein außerdem ein Reklameblatt für Farge-Rekum heraus. Etliche Fotos warben darin für die Lage an der Unterweser. Texte priesen Sehenswürdigkeiten wie die mit Reet gedeckten Fachwerkhäuser und enthielten Tipps für Ausflüge.
Für die Sommergäste wurde am Strandbad Farge eigens ein Sprungturm aufgebaut.
Foto:
Heimatverein Farge-Rekum
Also alles schick in Farge-Rekum. Zumindest für die Augen. Für die Nasen allerdings muss der Besuch in der Sommerfrische an der Unterweser wohl eher eine Zumutung gewesen sein. „Schon seit Beginn der 1920er-Jahre“, erzählen Jörg Bolz und Arend Wessels, „wurde hier intensive Schweinemast betrieben.“ 1932 gab es sechs hauptberufliche Mäster mit bis zu 700 Schweinen im Jahr, schrieb Arend Wessels in einem Text über den Fremdenverkehr in Farge-Rekum. Hinzu kamen noch die Bauern- und Nebenerwerbshöfe. Eine beißende Duftwolke von Ammoniak muss über dem Dorf gelegen haben. So war es ein eher kühnes Vorhaben, Farge-Rekum in dieser Hochphase der Schweinemästerei zu einem Luftkurort machen zu wollen. Die beiden Männer fragen sich, wie man diese Tatsache so ausblenden konnte. Inzwischen locken entlang der Weser im Bremer Norden auch keine lang gestreckten weißen Strände mehr. Die Ufer sind längst weitgehend befestigt worden, seit zu viel Sand in die Fahrrinne eingetragen wurde, erzählt Jörg Bolz. Zudem rät die DLRG heutzutage vom Baden in der Weser dringend ab. So sucht kaum noch jemand in Farge-Rekum die Sommerfrische. Dabei würden sich die Nasen heute gar nicht mehr rümpfen. Auch die Zeit der Schweinemäster ist hier längst Vergangenheit.