Eine der größten Shopping-Malls Deutschlands ist das Stuttgarter Milaneo. Viele lieben den Ort, manche hassen ihn. Diese architektonische Zumutung lässt niemanden kalt, auch gut zehn Jahre nach ihrer Eröffnung.
Ein verlässlicher Quell des Missvergnügens ist es, sich an einem schwitzigen Sommertag auf die Suche nach einem Sitzplatz im Freien begeben zu müssen. Ausgerechnet in einer Stadt, die berühmt ist für ihre Plätze mit großspurigen Namen, findet der Unkundige auf diesen Plätzen außer breiten Spuren für endlose Blechkolonnen nur selten Sonnenschirme mit dezent gekleideten Sitznachbarn, welche die Kunst des leisen Zwiegesprächs beherrschen.
Autofrei! Viel Sonne!
Der Winter hat schon sein Gutes. Da gibt’s eben nicht diesen vermaledeiten Schönwetterdruck, an arbeitsfreien Tagen sich unters Volk mischen zu müssen. Man kann mit bestem Gewissen fahlgesichtig wie ein Nacktmull im Bett wühlen und bis zum Sonnenuntergang zweieinhalb Staffeln irgendeiner Netflix-Serie wegglotzen.
Aber Jammern hilft wenig. Also ab zum Mailänder Platz. Weil: autofrei! Und viel Sonne! Und wenn man schon dort ist, kann man ja auch noch dieses und jenes einkaufen. Denkt man. So steht man dann auf dem Mailänder Platz, vor einem der Haupteingänge zur Shopping-Mall.
Jesses. Umgeben von Einkaufs- und Wohnklötzen des Milaneo fühlt man sich mit seiner Einkaufsliste wie die Stadtbibliothek von Eun Young Yi – ein wenig deplatziert. Und muss dabei an die immer noch gute Songzeile „Armer Irrer, null und nichtig, wertlos in der Warenwelt“ eines gewissen Jochen Distelmeyer denken. Wie voll das ist hier ist. Zigtausende Teenager. Und Familien. Eine ganze Kleinstadt voller Familien. Tschüss Geburtenrückgang! Kommen die Leute neuerdings mit angewachsenen Einkaufstüten auf die Welt?
Doch wider Erwarten funktioniert dieser Platz, er ist tatsächlich ein Treffpunkt für Menschen, die selbstredend auch schon alle da sind. Alle! Ein Tisch findet sich dennoch. Ein Wunder. Und ein Kellner serviert einen Latte macchiato. Und das: sofort! Und freundlich! Und der Inhalt im Glas ist sogar heiß, der Schaum schaumig. Und das in Stuttgart an einem Sommertag. Das ist wie ein Fünfer im Lotto.
Milaneo ist die Gegenwelt zum Marienplatz
Rammdösig schlürfend, erkennt man: Der Mailänder Platz ist ein eigener Mikrokosmos. Der Ort ist die Gegenwelt zum Marienplatz, wo man sich auch einen Sonnenbrand beim Espresso holen und sich etwas einbilden kann, aber anders. Hipster-Ellies, Ökos, Demonstrierende oder Bobos gibt es hier: so gut wie keine. Was eventuell auch mit der Architektur zu tun haben könnte.
Das Milaneo ist eines der größten Einkaufszentren in Deutschland. 2014 eröffnet, 43 000 Quadratmeter groß, 200 Shops. Gigantisch bis Gaga. Außen Trutzburg, innen Konsumkerker. „Als Architektur und Stadtraumplanung: ein einziges Desaster“, war letztens vom Architekturkritiker der Süddeutschen Zeitung zu lesen. Der Kollege hat leider recht. Das Raumgefühl bleibt trotz der Größenverhältnisse beklemmend, die Wabenstruktur der Läden mit den zahllosen Säulen und Rolltreppen erzeugen Nervosität. Kein Zentrum, keine klare Blickachse, nirgends.
Zehn Jahre Milaneo. Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper (re.) und Center Manager Dirk Keutzhen mit Jubiläumstorte im Jahr 2024. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski
Für Leute, die beim Gehen stets den kürzesten Weg mittels einer Geraden suchen, ist das Abschreiten der vielen oval eingeschnittenen Galerien eine echte Herausforderung. Die Orientierung fällt schwer, nach zwei Viertele findet man wahrscheinlich nicht mehr den Ausgang.
Alles wiederholt sich, nicht die Architektur strukturiert den Verkaufsraum, sondern einzig die leuchtenden Markenschilder über den Geschäften. Genau das aber erhöht die Verweildauer. Man kann auch den Geruchssinn aktivieren, das aufdringliche Odeur aus den zahllosen Schnellrestaurants hilft: Im Untergeschoss müffelt es tendenziell zwieblig bis knoblauchig, zwei Etagen höher bildet das Frittieröl die Kopfnote.
Stimmung wie auf dem Stuttgarter Volksfest
Ein Ort, perfekt zum Naserümpfen. Keiner aus dem Stuttgarter Bekannten- und Freundeskreis geht ins Milaneo einkaufen, zumindest gibt es keiner zu. Täglich kommen trotzdem unglaublich viele Leute, im Schnitt mehr rund 28 000 pro Tag! Sie finden das okay und scheinen auch total happy zu sein, gerade das Jungvolk.
Ein Geräuschpegel und Stimmung wie auf dem Volksfest, vor allem zwischen Primark und Tegut. Ein befreundeter Sozialarbeiter meinte, dass viele Teenager hier ihre Nachmittage verbringen, einfach so, in der Shopping-Mall, auch wenn sie gar kein Geld haben oder ausgeben. Eine Chill-Out-Area zwischen Primark, Aldi und Stradivarius. Bizarr.
Die meisten Milaneo-Fans finden den Weg allerdings per Auto aus dem Stuttgarter Umland, an Wochenenden sieht man Kennzeichen aus ganz Baden-Württemberg. Eher unwahrscheinlich, dass Architekten darunter sind. Diese, wie der jüngst verstorbene ehemalige Baubürgermeister Matthias Hahn richtig sagte, „überdimensionierte“ Shopping-Mall, ist eine Mischung aus Flughafen und Mega-Kreuzfahrtschiff amerikanischer Machart. Ein stationärer Freizeitdampfer für alle Freunde von Fast Food, Fast Fashion und Fast-Architektur. Fehlt nur noch ein Riesenrad.
Ach ja, von der Einkaufsliste konnte nix gestrichen werden. Weder gab es in einem der 200 Shops ein frisches Sauerteigbrot noch Grünkohl. Keine passende Kerzen, auch kein Kontaktspray oder eine spezielle Greifhilfe für die alte Mutter. Zum Glück gab es das alles in dieser Stadt namens Stuttgart, die gefühlt zwei Milchstraßen weiter zu finden ist. Aber der Latte Macchiato war gut, immerhin.
Dieser Artikel erschien erstmals im April 2025 und wurde im August aktualisiert.