AUDIO: Kreuzfahrtschiff: Werden Werftarbeiter in Wismar ausgebeutet (26 Min)
Stand: 14.08.2025 06:48 Uhr
Auf der Meyer Werft in Wismar wird für den Disney-Konzern gerade eines der größten Kreuzfahrtschiffe der Welt fertig gebaut. Auch Anamaria Ciocia aus Rumänien hat für kurze Zeit daran mitgearbeitet. Ihr Fall gibt Einblick in ein ausbeuterisches System.
Anfang Juli in der rumänischen Hafenstadt Constanţa: Anamaria Ciocia wohnt gleich neben dem Park Gării. Auf Krücken ist sie zum Interview hierher gelaufen. Ihr rechtes Bein steckt in einer Kunststoffschiene mit der Aufschrift „Sana Hanse-Klinikum Wismar“. Die Rechnung hat sie dabei: Vier Tage bleiben ihr, um 900 Euro für die Schiene zu bezahlen. Bei ihrer Arbeit auf der Meyer Werft in Wismar hat sie sich am 24. Mai den Knöchel gebrochen. Seit mehr als einem Monat wartet sie auf die Anerkennung des Arbeitsunfalls und auch auf mehrere Hundert Euro Lohn: „Ich habe so etwas nicht erwartet. Wir wurden wie Sklaven behandelt. Genau wie Sklaven. Und nicht nur wir, die meisten auf dieser Baustelle wurden so behandelt“, sagt Anamaria Ciocia über ihre Woche in Wismar.
Litauische Firma rekrutiert für Auftrag in Wismar
Im Frühjahr sind sie und ihr Mann auf die Facebook-Anzeige einer rumänischen Vermittlungsagentur gestoßen. Gesucht werden Arbeitskräfte für Werftjobs in ganz Europa. So sind sie in Kontakt mit der litauischen Firma Maviga Pro gekommen. Doch die bietet ihnen seinerzeit keinen Job in Litauen an, sondern in Wismar: „Wir wussten nicht, dass es um Deutschland geht. Es ist uns egal, wohin wir geschickt werden, wichtig ist, dass es Arbeit gibt.“ Anamaria Ciocia unterschrieb einen 18-seitigen Arbeitsvertrag – auf Litauisch und Englisch. Drei Monate lang soll sie auf der Werft in Wismar als „Interior fitter“ an der Innenausstattung des Disneyschiffes arbeiten. Ein Video von ihrer Unterkunft für die Zeit zeigte eine einfache, moderne Zwei-Raum-Wohnung mit Balkon.
Die Unterkunft: „Der Dachboden eines Viehstalls“
Doch vor Ort war alles anders als erwartet. Kurz vor Mitternacht kamen Anamaria Ciocia und ihr Mann an der Unterkunft an: „Es war stockdunkel. Ich konnte nicht sehen, um was für ein Gebäude es sich handelte. Erst am Morgen haben wir erkannt, wo wir eigentlich untergebracht waren. Es war tatsächlich der Dachboden eines Viehstalls.“ Am nächsten Morgen um 6 Uhr, erzählt sie, wurden sie von einem Vorarbeiter zur Werft gebracht, bekamen dort ihre Zugangskarten und Arbeitsausrüstung – nicht von Maviga Pro, sondern von der Firma NIT, der Naval Interior Team GmbH. Bei den NIT-Mitarbeitern sprach Anamaria Ciocia den prekären Zustand ihrer Unterkunft an: „Sie sagten uns, wir sollen Geduld haben, wir würden am Ende des Tages zu einer anderen Unterkunft gebracht.“ Und noch etwas war vor Ort anders: Statt die Innenausstattung zu bauen, sollten Anamaria Ciocia und ihre Kollegen nun Müll vom Schiff tragen – über Treppen von Deck zu Deck.
Auf deutschen Straßen sind mutmaßlich Tausende LKW-Fahrer illegal unterwegs. Ihre Auftraggeber betreiben Lohndumping und prellen die Sozialkassen. Ermittler sind frustriert, weil sie wenig ausrichten können.
Rumänische Kollegen reisen vorzeitig ab
Am Ende des ersten Tages wurde sie in die neue Unterkunft gefahren, in der schon ihre Kollegen untergebracht sind – ein Dachboden in der Bahnhofstraße in Schwaan: „Es war voll mit Bettwanzen und Mäusen. Es war grauenhaft.“ Drei ihrer rumänischen Kollegen reisten daraufhin freiwillig zurück nach Hause. Das veränderte die Stimmung auf der Werft: „Sie waren sehr verärgert darüber. Wenn wir etwas gefragt haben, wurde uns nur sehr unhöflich geantwortet, eine Zusammenarbeit war nicht mehr möglich.“ Wenn Anamaria Ciocia über die Personen spricht, die für ihre Unterkunft und auf der Baustelle zuständig waren, kann sie nicht sagen, wer für welche Firma gearbeitet hat – Maviga Pro oder NIT.
Subunternehmerketten umgehen Arbeitsrechte
Anamaria Ciocia gelangte über eine Kette von Subunternehmen nach Wismar: Für den Innenausbau des Schiffes hat die Meyer Werft einen Werkvertrag mit der Firma NIT geschlossen. NIT hat dafür die litauische Firma Maviga Pro beauftragt. Die wiederum rekrutierte dafür Anamaria Ciocia und ihre Kollegen aus Rumänien. Dass ausländische Arbeitskräfte über drei bis vier Ländergrenzen hinweg vermittelt werden, komme immer häufiger vor, erklärt Mirela Caravan vom Nationalen Gewerkschaftsblock in Bukarest, denn für die Generalunternehmer habe das Vorteile: „Das liegt eindeutig daran, dass der Subunternehmer Arbeitskräfte zu einem niedrigeren Preis anbietet. Sie nutzen Schlupflöcher und missbrauchen so die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der Europäischen Union.“ Subunternehmerketten hätten häufig zur Folge, dass die nationalen Arbeitsnormen umgangen werden, sagt Mirela Caravan.
Unfall auf Deck 5
Anamaria Ciocia stürzte während der Arbeit auf einem Kreuzfahrtschiff in der Meyer Werft, krankenversichert war sie aber nicht.
Mehrere Tage lang trug Anamaria Ciocia große Müllsäcke von Deck zu Deck – mindestens zehn Stunden lang ohne Mittagspause, erzählt sie. Vor allem Deck 5 und 6 des Schiffes seien mit Gerüsten vollgestellt gewesen – so eng, dass sie sich kaum habe bewegen können. „Als ich die Treppe hinuntersteigen wollte, stolperte ich über einen Sack, der sich zwischen dem Gerüst und der Stufe verhakte und trat um.“ Schon am Abend seien ihr Knöchel und Fuß sichtbar angeschwollen. Trotzdem habe ein Vorarbeiter am nächsten Tag angeordnet, dass sie weiterarbeiten soll. Zufällig bekam sie in dieser Zeit von einem anderen Werftarbeiter die Nummer des Schweriner Vereins „CORRECT – Arbeit und Leben“.
Verantwortung wird verlagert
Stefanie Albrecht und ihr Team helfen ausländischen Arbeiterinnen und Arbeitern dabei, ihre Rechte durchzusetzen. Mit einigen Branchen haben sie immer wieder zu tun: Paketdienste, Baugewerbe, Reinigungsfirmen und Werften. Werkverträge seien dort notwendig, denn für viele Bauabschnitte brauche es spezialisierte Firmen. Doch die Subunternehmerketten würden es ihr immer häufiger erschweren, herauszufinden, wer rechtlich überhaupt verantwortlich ist – meist eben nicht der Auftraggeber: „Wenn der Lohn nicht gezahlt wird, wenn die Unterkunftsbedingungen nicht stimmen, wenn ein Arbeitsunfall passiert, um all das muss man sich dann nicht mehr kümmern. Das ist aber schon die Verantwortung derjenigen, die von der Arbeit dieser Menschen profitieren“, sagt Stefanie Albrecht.
Albrecht: „Betroffene gab es in allen Stadien des Schiffes“
Was Anamaria Ciocia und ihren Kollegen passiert ist, sei kein Einzelfall. Seit der Beratungsverein 2019 gegründet wurde, suchten Werftarbeiter bei ihr Hilfe – unabhängig davon, welche Werft gerade den Bau der heutigen „Disney Adventure“ vorantrieb. Bei Baubeginn 2018 war es noch die „Global One“, unter der Leitung der MV Werften. Nach deren Insolvenz 2022 und dem Kauf des Schiffes durch den Disney-Konzern hat die Meyer Werft es weitergebaut. „Vom Zusammenbau des Rumpfes, über die Reinigung des Schiffes, beim Innenausbau, bei der Elektrik, also in jedem Stadium dieses Schiffes gab es Menschen aus dem Ausland, die über Subunternehmer beschäftigt und nicht korrekt behandelt wurden“, sagt Stefanie Albrecht. Immer wieder hätten ganze Gruppen von Rumänen, Bulgaren und Griechen Hilfe gesucht, weil sie ihren Lohn nicht erhalten haben oder weil sie unerwartet von einem Tag auf den anderen gekündigt wurden.
Diagnose: Knöchelbruch
Von ihrer Verletzung hätten vor Ort sowohl Mitarbeiter von Maviga Pro als auch von NIT etwas mitbekommen, sagt Anamaria Ciocia. Doch erst eine Mitarbeiterin von CORRECT sei schließlich mit ihr zum Betriebsarzt und dann ins Krankenhaus gefahren, um ihren Fuß röntgen zu lassen. Diagnose: Knöchelbruch. Im Krankenhaus habe sie erfahren, dass sie nicht krankenversichert ist. Sie bräuchte eine sogenannte A1-Bescheinigung vom Arbeitgeber als Nachweis. Auch auf Nachfrage bekommt sie diese von Maviga Pro nicht. Alle Dokumente seien bei den „zuständigen Stellen“, schreibt man ihr via Messenger. Auf dem Rezept für die 900 Euro teure Schiene steht „Selbstzahler“. Als CORRECT sich telefonisch bei Maviga Pro nach der Krankenversicherung erkundigt, habe die Firma zunächst sogar bestritten, dass Anamaria Ciocia überhaupt für sie arbeite.
Insgesamt 69 besonders schwere und tödliche Arbeitsunfälle gab es im Jahr 2024. Sieben Menschen kamen dabei ums Leben.
Von einem Tag auf den anderen seien sie und ihre Kollegen aufgefordert worden, die Unterkunft in Schwaan zu räumen und ihre Zugangskarten abzugeben. Als sie aus dem Krankenhaus kam, sollte Anamaria Ciocia direkt in den Bus zurück nach Rumänien steigen: „Was wäre passiert, wenn mir ein Stück Eisen auf den Kopf gefallen wäre und ich dort gestorben wäre? Hätten sie dann auch gesagt, dass ich nicht für sie gearbeitet habe?“ Die Antwort darauf findet sich auf Seite 7 ihres Arbeitsvertrages: „Der Arbeitnehmer wird darüber informiert, dass er gegen Unfälle versichert ist/sein kann (oder nicht versichert ist – nach Wahl des Arbeitgebers) und stimmt zu, dass im Falle seines Todes UAB MAVIGA PRO der Begünstigte ist.“
Kosten sparen bei der Sozialversicherung
Dass ausländische Unternehmen Arbeitskräfte „entsenden“, ist legal, selbst wenn die Arbeiter aus einem anderen Land kommen. Doch Anamaria Ciocia hat ihren litauischen Arbeitsvertrag erst fünf Tage vor ihrer Abreise nach Wismar unterschrieben. Weil sie nie in Litauen war und auch nie zuvor für Maviga Pro gearbeitet hat, hätte sie in Deutschland versichert werden müssen, erklärt Stefanie Albrecht: „Frau Ciocia war vorher ja gar nicht im litauischen Sozialversicherungssystem gemeldet. Sie hätte zwar von Maviga Pro nach Wismar entsendet werden dürfen, aber nicht mit der günstigeren Sozialversicherung in Litauen, sondern mit der teureren Sozialversicherung in Deutschland.“ Festgeschrieben ist das in der EU-Verordnung 987/2009 zur „Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit“ – die Praxis in diesem Fall also illegal.
Meyer Werft und NIT verweisen auf Maviga Pro
Die Meyer Werft antwortet auf NDR Anfrage schriftlich, dass für diesen Fall ausschließlich die Firma NIT direkter Vertrags- und Ansprechpartner sei. NIT habe eine Lösung gefunden, die bereits umgesetzt werde. Die Firma NIT bestätigt auf NDR Anfrage die Geschäftsbeziehung mit Maviga Pro. Aufgrund der Vorwürfe habe Maviga Pro „Belege für bestehende Kranken- und Sozialversicherungen vorgelegt, welche die Absicherung der betreffenden Personen belegen“, heißt es von NIT. Auch den Umstand der noch ausstehenden Zahlungen habe Maviga Pro „unbürokratisch beheben“ können. NIT schreibt außerdem: „Wir möchten darauf hinweisen, dass NIT keine arbeitsrechtliche Bewertung abgeben kann, da es sich hierbei um ein Vertragsverhältnis zwischen Maviga Pro und deren Arbeitnehmern handelt.“ Maviga Pro äußert sich gegenüber dem NDR zu den Vorwürfen nicht. Die „unbürokratische“ Lösung sieht so aus: Mitte Juli hat Maviga Pro die Rechnung für die Beinschiene von Anamaria Ciocia bezahlt und ihr den ausstehenden Nettolohn von 500 Euro überwiesen. Richtig freuen kann sie sich darüber nicht, denn sie ist sicher: Ohne Hilfe von CORRECT hätte sich niemand gemeldet.
Die einen freuen sich über neue Arbeitsplätze. Andere sorgen sich, weil Wismar ein Standort für Kriegsschiffe wird.
Generalunternehmer haftet nur für ausstehenden Nettolohn
Mit dem sogenannten Arbeitnehmer-Entsendegesetz ist auch der Generalunternehmer – also Meyer und NIT – haftbar. Allerdings betrifft das nur den ausstehenden Nettolohn, falls der durch den Subunternehmer nicht gezahlt wird. Recht durchzusetzen sei deshalb ein riesiges Problem, sagt Stefanie Albrecht. Anamaria Ciocia müsste von Rumänien aus in Deutschland klagen – gegen litauisches Recht. Oder in Litauen selbst wegen Unrecht, das in Deutschland passiert ist. Diese Möglichkeiten haben Betroffene nur sehr selten. Stefanie Albrecht schätzt, dass von 100 betroffenen ausländischen Arbeitskräften einer vor Gericht Recht bekommt: „Es wäre besser, wenn es in Deutschland so gesetzlich geregelt wäre, dass man sich gar nicht an die Subunternehmer im Ausland wenden muss, sondern sich direkt an den Generalunternehmer wenden und auch klagen kann.“
Caravan: „Übeltäter finden immer Schlupflöcher“
Mirela Caravan vom Nationalen Gewerkschaftsblock in Rumänien versucht vor Ort so viele Menschen wie möglich aufzuklären, bevor sie sich auf ein Jobangebot im Ausland einlassen. Um den Missbrauch von grenzüberschreitender Entsendung zu verhindern, müssten auch die Gewerkschaften grenzüberschreitend zusammenarbeiten: „Ein Gesetz ist ein lebendiges Gebilde und muss aktualisiert und geändert werden, denn die Übeltäter finden immer Schlupflöcher und alle möglichen Wege, sich ihren Verpflichtungen zu entziehen. Daher ist eine solche transnationale Infrastruktur sehr wichtig.“ Der Verein CORRECT hat mehrere Zweigstellen in MV und in anderen Bundesländern. Der Deutsche Gewerkschaftsbund betreibt das bundesweite Netzwerk „Faire Mobilität“, das Beratungen in verschiedenen Sprachen anbietet.
Ciocia: „Am Ende tut überhaupt niemand etwas“
Anamaria Ciocia hätte sich nicht vorstellen können, dass ihr so etwas in Deutschland passiert. Aber sie kennt andere Rumänen, die Ähnliches erlebt haben – jedoch nicht darüber sprechen. Entweder weil sie Monate lang darauf hoffen, ihren Lohn doch noch zu bekommen oder schon wieder in einem ganz anderen Land unterwegs sind. So wie ihre Kollegen, mit denen sie in Wismar war: Die sind schon wieder auf einer Werft in Spanien. Auch Anamaria Ciocia wäre jetzt dort, wenn sie wieder laufen könnte. Für den Unfall kann niemand etwas, sagt sie, aber sehr wohl für den Umgang damit: „Ich finde, alle sind verantwortlich. Auch Meyer sollte wissen, was bei den Firmen auf der Baustelle passiert und was die Arbeits- und Unterkunftsbedingungen sind. Wenn die Verantwortung von einem auf den anderen geschoben wird, tut am Ende überhaupt niemand etwas.“