Die Kiste fällt trotz Fallschirm so schnell zu Boden, dass sich Muhannad Zakaria Eid inmitten der herbeigeeilten Menschenmenge nicht mehr in Sicherheit bringen kann. Der Teenager aus dem Gazastreifen wird von den abgeworfenen Hilfsgütern erschlagen, ein Video von seinem Versuch, an Essbares zu gelangen, wurde in den vergangenen Tagen vielfach in den sozialen Netzwerken geteilt.
Die Hilfslieferungen aus der Luft, mit denen Staaten wie Deutschland zuletzt versuchen, die Hungersnot in Gaza ein wenig zu lindern, wurden vielfach kritisiert: zu gefährlich, zu teuer, zu ineffektiv im Vergleich zu Hilfslieferungen über den Landweg. Doch die israelischen Behörden verweigern vielen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) seit Anfang März die Einfuhrgenehmigungen für dringend benötigte Transporte, die Nahrungsmittel und medizinische Güter in den vom Krieg stark zerstörten Küstenstreifen bringen könnten.
An diesem Donnerstag veröffentlichten deshalb mehr als 100 Akteure der humanitären Hilfe ein gemeinsamen Statement, gerichtet an „alle Staaten und Spender“. Darin fordern sie unter anderem ein Ende der „Instrumentalisierung von Hilfe“. Die NGOs beklagen, die Einfuhren würden mit der Begründung abgelehnt, dass die Organisationen dazu „nicht berechtigt“ seien. Allein im Juli sollen so mehr als 60 Anträge abgelehnt worden sein.
Zu den Unterzeichnern des Statements gehören Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen (MSF), der Norwegian Refugee Council (NRC) und Oxfam. Allein die Hilfsorganisation Anera gibt an, dass ihre Hilfsgüter im Wert von sieben Millionen US-Dollar feststeckten – darunter mehr als 700 Tonnen Reis, mit denen sechs Millionen Mahlzeiten in Gaza zubereitet werden könnten.
Beinahe täglich neue Hungertote
Bereits am Dienstag hatten die Außenminister mehrerer EU-Staaten sowie weiterer Länder wie Kanada und Japan das israelische Vorgehen kritisiert. In einer gemeinsamen Erklärung forderten sie Israels Regierung dazu auf, Genehmigungen für alle Hilfslieferungen internationaler NGOs zu erteilen und „essenzielle humanitäre Akteure“ nicht mehr an ihrer Arbeit zu hindern. Deutschland gehört nicht zu den Unterzeichnern.
© Lea Dohle
Newsletter
Was jetzt? – Der tägliche Morgenüberblick
Vielen Dank! Wir haben Ihnen eine E-Mail geschickt.
Prüfen Sie Ihr Postfach und bestätigen Sie das Newsletter-Abonnement.
Bis Ende Juli sind laut den Vereinten Nationen in diesem Jahr bereits 74 Menschen in Gaza an Mangelernährung gestorben. Allein 63 davon waren es vergangenen Monat, darunter 25 Kinder. Auch seit Anfang August meldet die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde in Gaza beinahe täglich neue Hungertote.
Hintergrund der Verweigerungen sind im März in Kraft getretene neue Richtlinien für NGOs, die in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten arbeiten, darunter in Gaza: Seit Beginn des Jahres ist für die Registrierung der Organisationen und ihrer Mitarbeiter nicht mehr das israelische Wohlfahrtsministerium zuständig, sondern das Ministerium für Diasporaangelegenheiten und die Bekämpfung von Antisemitismus. Es wird von dem rechten Hardliner Amichai Chikli geleitet, der Anfang Juli mit weiteren Likud-Ministern die unmittelbare Annexion des Westjordanlandes gefordert hatte.
Strenge Auflagen und vage Regeln
Die neuen Guidelines für NGOs sehen unter anderem vor, dass Informationen über Spendengeber preisgegeben werden und Listen mit Namen sowie sensible Personendaten aller Mitarbeiter vorgelegt werden müssen, einschließlich palästinenischer und ausländischer. Bis Anfang September haben die Organisationen Zeit, die umfänglichen Unterlagen vorzulegen. Sonst droht ihnen, ihre Arbeit einstellen zu müssen.
Außerdem können Genehmigungen für Organisationen und ihre Mitarbeiter aus mehreren Gründen nicht erteilt oder binnen 60 Tagen aufgehoben werden. Dazu zählen etwa Rassismus und das Leugnen des Holocausts. Aber auch eher vage formulierte Punkte wie die Teilnahme an „Delegitimierungskampagnen“ gegen den Staat Israel. Ein weiterer Grund ist die „schriftliche oder verbale Unterstützung“ von Rechtsverfahren gegen Israelis im Ausland oder vor einem internationalen Gericht „wegen Handlungen, die sie im Rahmen ihrer Pflichten bei den israelischen Armee oder in einer Sicherheitsbehörde“ ausgeübt haben. Letzteres ist wohl vor allem mit Blick auf das Völkermordverfahren gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) zu betrachten.
In ihrem Statement warnen die NGOs nun unter anderem davor, dass diese Kriterien politisch instrumentalisiert werden und dazu dienen würden, ihre Arbeit zu kontrollieren und zu zensieren.
Kritik am aktuellen Verteilsystem
„Dieses Vorgehen kommt nicht zuletzt der Gaza Humanitarian Foundation zugute“, sagt Chris Whitman von der deutschen Hilfsorganisation medico international, die das Statement ebenfalls unterzeichnet hat. Die GHF, eine private Stiftung, die mit amerikanischen Sicherheitsunternehmen zusammenarbeitet und seit Anfang Mai im Gazastreifen aktiv ist und Lebensmittel verteilt, wurde bereits im Vorfeld von vielen Hilfsorganisationen kritisiert, da sie humanitäre Prinzipien nicht einhalte. Bislang wurden in der Umgebung der GHF-Verteilstellen und auf dem Weg dahin laut UN rund 1.400 Menschen getötet und Hunderte weitere verletzt.
Martin Keßler, Leiter der Diakonie Katastrophenhilfe, die das Statement ebenfalls mitträgt, sagte der ZEIT, dass die palästinensischen Partnerorganisationen die Auswirkungen der wenigen verfügbaren Hilfen in Gaza derzeit deutlich spüren. Die Diakonie bringt selbst keine Hilfsgüter nach Gaza, ihre Partner sind von den verfügbaren Hilfsgütern vor Ort abhängig, die andere Akteure in das Kriegsgebiet bringen. Statt Nahrungsmittel oder Hygieneprodukte zu verteilen, sei die Arbeit der Partner momentan auf psychosoziale Beratung beschränkt. „Wir brauchen einen Waffenstillstand“, sagt Keßler, „aber mindestens sichere Zugänge und Korridore für humanitäre Hilfe, die überall dahin gelangt, wo die Menschen sind.“