Im Jahr 2029? 2028? Oder doch schon 2027? So oder so, es sind keine allzu großen Zeitfenster, in denen westliche Expertisen Russland dazu in der Lage sehen, zu einer ernsthaften Bedrohung für Nato-Staaten zu werden. Zwar weiß niemand, was im Kreml besprochen wird und welche Dynamik der Krieg in der Ukraine noch gewinnen kann, wenn nicht doch noch eine Friedenslösung oder zumindest eine Waffenruhe vereinbart werden kann. Minderheitsmeinungen wie die des amerikanischen Geopolitikers George Friedman gehen gar davon aus, dass Russland schon jetzt verloren hat, weil es in dreieinhalb Jahren nicht vermocht hat, die Ukraine zu besiegen. Die vehementen russischen Angriffswellen der vergangenen Tage und Wochen bei zugleich stockenden Waffenlieferungen des Westens vermitteln einen anderen Eindruck: Dass es womöglich nicht mehr lange dauern könnte, bis die Ukraine die Waffen strecken muss. Doch was würde das bedeuten? Längst wird ein russischer Sieg in Modellen und Manövern durchgespielt. Mit folgenden Szenarien:
In bemerkenswerter Offenheit hatte der Bundesnachrichtendienst kürzlich seine Einschätzung an die Öffentlichkeit lanciert, Russland schaffe bis zum Ende des Jahrzehnts wohl alle Voraussetzungen, einen „großmaßstäblichen konventionellen Krieg“ führen zu können. Hoffnung bietet dabei nicht nur die Tatsache, dass die Betonung auf „können“ liegt.
Einmarsch der russischen Armee in Deutschland
Forderungen nach Wiederherstellung von „Kriegstüchtigkeit“, Resilienz und Zivilschutz kalkulieren zwar den theoretischen Extremfall ein. Ernsthaft rechnet mit russischen Panzerarmeen in Mittel- und Westeuropa derzeit aber niemand. Nicht nur, dass eine Invasion in Ländern wie Polen, Deutschland, Finnland oder Schweden und damit in Nato-Gebiet für Russland wohl eine Nummer zu groß wäre – auch gibt es über rhetorisches Säbelrasseln hinaus keine belastbaren Quellen, auf deren Grundlage man dem Kreml Angriffspläne unterstellen könnte. Dass es sich der Westen dennoch nicht allzu bequem machen sollte, hängt mit etwas anderem zusammen.
Strategische Ziele Russlands
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine kristallisiert sich zunehmend als Mittel zum Zweck heraus. Denn Putins wichtigstes strategisches Ziel ist nicht die Annexion der Ukraine, sondern eine neue Sicherheitsordnung in Europa, eine zentrale Rolle Russlands mit eigenem imperialen Einflussraum und die Rückabwicklung der Nato-Osterweiterung auf den Stand von 1997. Aks Minimalziel sollen nach Putins Willen die US-Truppen aus Polen und dem Baltikum verschwinden. Kalkül des russischen Präsidenten: Je größer die russischen Erfolge an der Front, je mehr die Unterstützung für die Ukraine schwindet,desto besser werden die Ziele einzufordern sein.
Bannt eine Entscheidung in der Ukraine durch ein „saturiertes“ Russland die Kriegsgefahr in Europa?
Ganz im Gegenteil, sagen Experten wie der Politikberater Nico Lange oder Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München. Masala hat in einem Essay mit dem Titel „Wenn Russland gewinnt“ ein literarisches Szenario gezeichnet. Im Ausgangspunkt seiner Überlegungen erhält Russland im Zuge von Verhandlungen jenes Territorium, in dem seine Truppen aktuell in der Ukraine stehen – etwa ein Viertel des ukrainischen Staatsgebietes. Auf kleiner Flamme schwelt der Konflikt weiter, immer wieder kommt es zu Partisanenaktionen. Die Folge: erhebliche Flüchtlingsströme sowohl innerhalb der Ukraine als auch aus der Ukraine hinaus – dorthin, wo bereits viele Ukrainer leben, nach Polen und Deutschland zum Beispiel.
Hybride Kriegsführung gegen Deutschland
Folgt man Masala, so ist genau dies vom Kreml auch beabsichtigt, weil die Flüchtlingsströme in Zielländern wie Deutschland gesellschaftliche Debatten und innenpolitische Spannungen erzeugen. Erst recht dann, wenn die politischen Ränder unter Verweis auf den russischen Sieg in der Ukraine behaupten können: „Wir haben es euch ja gleich gesagt!“ Tatsächlich sind klassische Mittel der hybriden Kriegsführung auf operativer Ebene in Deutschland bereits Realität: Desinformationskampagnen durch Streuung von Falschmeldungen, Zerstörung von Seekabeln, nukleare Drohungen, Cyberattacken. Sand im föderalistischen Getriebe könnte das (ohnehin angekratzte) Vertrauen in Institutionen weiter aushöhlen – und mit ihr die Akzeptanz in der Bevölkerung für eine bewaffnete Auseinandersetzung. Und das könnte noch wichtig werden.
Es ist das so genannte Narwa-Szenario, das Carlo Masala in seinem Büchlein ausschmückt: 80 Prozent der knapp 55.000 Einwohner des estnischen Städtchens nahe der Grenze zu Russland sprechen russisch. Erst kürzlich hat das estnische Parlament – in Wirklichkeit, nicht im Szenario – Ausländern das Kommunalwahlrecht entzogen. Fiktion ist indes (noch) der Rest von Masalas Buch: Konfrontationen zwischen Staat und russischer Minderheit in Estland verstärken sich, aus Demonstrationen werden Unruhen und schließlich ein fingierter Aufstand. Ähnlich wie in der Ukraine schlüpft Russland in die propagandistisch nutzbare Rolle der Schutzmacht, notfalls hilft ein Trick à la „Sender Gleiwitz“ 1939, als die Deutschen einen Vorwand für den Einmarsch in Polen konstruierten.
Womöglich passiert all das an einem Wochenende, womöglich hat Russland bereits eine Volksabstimmung organisiert, gibt russische Sim-Karten aus und macht den Rubel zum Zahlungsmittel. Und womöglich sind die europäischen Staaten gerade mit ganz anderen Problemen beschäftigt: zum Beispiel mit Gesprächen über Flüchtlingsströme aus Subsahara-Afrika, wo die russische Wagner-Gruppe an der Serie von Militärputschs – zuletzt in Burkina Faso 2022, Niger und Gabun 2023 – keineswegs völlig unbeteiligt war.
Test der Nato-Beistandspflicht
„Mourir pour Dantzig?“ (Sterben für Danzig?) lautete im Frühjahr 1939 eine pazifistische Parole in Frankreich – dessen Regierung dennoch auf den deutschen Angriff auf Polen mit der Kriegserklärung reagierte. Ob heute alle 32 Nato-Staaten und ihre Wähler – allen voran die USA unter Trump – eine Aggression Russlands gegen einen vergleichsweise kleinen baltischen Staat uneingeschränkt mit dem in Artikel 5 des Nato-Vertrags festgeschriebenen Beistandsfall und all seinen Konsequenzen quittieren würden? Krieg mit Russland? Sterben für Tallinn? Die Zweifel daran halten sich hartnäckig. Daran ändern auch die Drohungen von US-Präsident Trump gegen Russland vor dem Alaska-Gipfel nichts. Allein eine Diskussion darüber, so ist sich etwa Carlo Masala sicher, würde das Ende der Nato einläuten – und Russland möglicherweise nach einer kurzen Verschnaufpause zum nächsten, etwas größeren Schlag ermuntern.
Indem man in hohem Tempo Abschreckungspotenzial entwickelt, wie etwa mittels der 5000 künftig dauerhaft in Litauen stationierten Bundeswehrsoldaten (bei gleichzeitig aus Kaliningrad auf deutsche Städte gerichteten atomwaffenfähigen Raketen), sagt die herrschende Meinung in Europa. Heißt: Tempo bei der Beschaffung, Redundanzen auf allen Ebenen und die Bevölkerung an den Gedanken gewöhnen, dass zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwingen Gefangene gehören, Verwundete und Gefallene. Eine Konfliktsituation auf Augenhöhe, das klingt wie eine auf Dauer angelegte Mischung aus Limes und Eisernem Vorhang vom Nordkap bis ans Schwarze Meer. Eine solche „Lösung“ dürfte auf Dauer nicht nur für beide Seiten und ihre Bevölkerungen teuer werden, sondern ließe sich wohlwollend als Stabilität, realistisch als geopolitische Spaltung lesen, bei der die Eskalationsgefahr permanent mitschwingt.
Vor diesem Hintergrund klingen die Worte des ehemaligen Nato-Generalsekretärs Jens Stoltenberg nach, der im vergangenen Dezember davor warnte, die Gefahr eines Krieges mit Russland zu überzeichnen. Man dürfe „keine selbsterfüllenden Prophezeiungen konstruieren“, sagte er damals dem Handelsblatt, und weiter: „Wenn wir so sprechen, als ob ein Krieg bevorsteht, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass genau das passiert. Das ist gefährlich.“ Nicht nur für die Akteure in Deutschland gilt es zu vermeiden, fahrlässig in einen bewaffneten Konflikt mit Russland zu schlittern.
Wie umgehen mit einem Sieger Russland?
Einen echten Plan dafür scheint im Westen derzeit niemand zu haben. Selbst bei einem Patt in der Ukraine würde nach rationalem Ermessen Russland weder seine eroberten Gebiete abgeben und schon gar nicht seine Atomwaffen. Eine realistische Idee für einen modus vivendi, der hinsichtlich der Sicherheitsinteressen aller Beteiligten einen größtmöglichen gemeinsamen Nenner findet, ist weder im pazifistischen Lager ersichtlich noch bei jenen, die weiterhin entschieden für die Unterstützung der Ukraine mit Waffen eintreten.
Reichlich fern erscheint da jene Hoffnung, die in Podiumsdiskussionen zuletzt immer häufiger Gestalt annimmt: ein neuer Michail Gorbatschow. Doch dessen Charmeoffensive begann bekanntlich, als eine hoffnungslos verschuldete Sowjetunion im Begriff war, den Kalten Krieg zu verlieren. Die aktuell beschriebenen Szenarien aber gehen nun einmal von einer anderen Prämisse aus.