Kiel. Er läuft und läuft und läuft. Jeden Tag. Bei Wind und Wetter. Und lässt damit nicht nur Beschwerden, sondern auch Ängste ein Stück weit hinter sich: Marc Cordsen aus Kiel lebt seit Anfang 2021 mit der Diagnose Multiple Sklerose (MS). Für den 40-Jährigen war das Weckruf und Wendepunkt zugleich.
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Marc Cordsen nutzt seine Erkrankung als zweite Chance – auf ein glücklicheres Leben, in dem er mehr für seine Gesundheit tut. „Die Multiple Sklerose ist eine tragische Krankheit, aber sie hat mein Leben gerettet“, sagt der Mann aus Kiel. Die MS sei das Beste, was ihm habe passieren können.
Multiple Sklerose als zweite Chance für Kieler Marc Cordsen
Ein warmer Mittag Mitte August in Kiel, Marc Cordsen kommt an der Hörnbrücke an. Ein Blick auf seine Fitness-Uhr zeigt um 12.52 Uhr mehr als 21.000 Schritte. „Für mich ist das wenig, sonst wäre ich schon bei 30.000 Schritten“, sagt Cordsen beim Spazierengehen. „Ich laufe jeden Tag zwischen 45.000 und 55.000 Schritte, um die 35 Kilometer.“ Am Tag zuvor sei es ein bisschen mehr gewesen, mit 65.000 Schritten. Längst kein Spitzenwert für ihn: „Mein Rekord liegt bei 83.000 Schritten.“
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Das war nicht immer so. Marc Cordsen sagt über sich selbst, er habe sich früher „gehen lassen. Ich habe aus Langeweile viel gegessen, dazu habe ich mich wenig bewegt, Alkohol getrunken.“ Mehr als 150 Kilogramm habe er auf die Waage gebracht. Und irgendwann, im ersten Jahr der Pandemie, fing es an mit den Symptomen.
Symptome von MS: Schmerzen, Kribbeln und Taubheitsgefühle
Es habe sich angefühlt wie ein Muskelkater in den Oberschenkeln nach einem Marathon. Cordsen habe vor Schmerzen nicht aufstehen können. Später seien Taubheitsgefühle und Kribbeln von der Brust abwärts bis zum rechten Fuß dazugekommen. Er habe Hausarzt und Orthopäden aufgesucht, weitere Symptome entwickelt, Augenprobleme sowie Magen- und Darmprobleme. Seit Sommer 2020 sei er krankgeschrieben.
Die Diagnose Multiple Sklerose erhielt der gelernte Lagerist schließlich im Januar 2021 in einer neurologischen Klinik. Nach dem Ausprobieren verschiedener Medikamente hat er jetzt eines gefunden, das für ihn wenige Nebenwirkungen bedeutet – und die Zahl der Schübe reduziert. Der letzte Schub sei 2022 aufgetreten.
Krankheit mit tausend Gesichtern
Multiple Sklerose wird gern als Krankheit mit tausend Gesichtern bezeichnet, das bestätigt die Sprecherin der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) Schleswig-Holstein, Katja Kviske. Nicht jeder oder jede Betroffene sei zwangsläufig früher oder später auf einen Rollstuhl angewiesen. Es gebe auch unsichtbare Symptome wie Erschöpfung (Fatigue). Die Krankheit sei in Deutschland sehr gut behandelbar. Immer wieder würden Patienten die Diagnose als Weckruf sehen, um ihr Leben zu ändern. Die Häufigkeit der Diagnose nehme zu, auch in Schleswig-Holstein. Bundesweit wird die Zahl der Patienten laut MS-Register auf 200.000 bis 300.000 geschätzt, im Norden geht die DMSG von bis zu 6500 Betroffenen aus. Vor einem Jahr habe die Schätzung noch bei 5500 Patienten gelegen. Weltweit werde nach möglichen Erklärungen geforscht. Unter anderem gelten demnach das Epstein-Barr-Virus und ein Mangel an Vitamin D als mögliche Ursachen. Auch der Lebensstil werde als Faktor angesehen. Die DMSG im Land rät Patienten zur Bewegung, auch, um Schübe zu vermeiden. Allerdings solle man sich dabei nicht überfordern.
Marc Cordsen möchte auch über MS aufklären, er sieht sich mit Vorurteilen konfrontiert. „Oft höre ich, dass Patienten auf jeden Fall auf den Rollstuhl angewiesen sein werden. Das muss aber nicht sein.“ Multiple Sklerose sei die Krankheit mit den tausend Gesichtern, sie falle bei jedem individuell aus.
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Marc Cordsen aus Kiel: „Laufen ist besser für meine Gesundheit“
Der Kieler hat sein Leben seit der Diagnose „um 180 Grad gedreht, in jeglicher Hinsicht“. Anstatt zu Hause zu sitzen, läuft er lieber, auch mit leichter Gangstörung: „Das ist besser für meine Gesundheit.“
Mit rund 10.000 Schritten am Tag fing es an. Cordsen zeigt seine digitalen Aufzeichnungen. Er esse zudem weniger, dabei viel Vollkorn. Der Kieler hat sich innerhalb von zwei Jahren gewichtsmäßig halbiert. Auch das zeigen seine Daten. „Jetzt liege ich bei 75 Kilo – mein Wohlfühlgewicht.“ Was ihm beim Abnehmen und im Umgang mit Multipler Sklerose half: Der Schrittzähler motiviere ihn.
Fast immer wählt Marc Cordsen dieselbe Strecke: Gegen 11 Uhr beginnt er in Kiel-Gaarden, wo er wohnt. Er laufe die ganze Kiellinie entlang bis zur Wik, rüber Richtung Holstein-Stadion. Zurück geht es über den Westring Richtung Lehmberg, bis zum Kleinen Kiel, am Sophienhof vorbei und gegen 16 Uhr über die Gablenzbrücke nach Hause. Abends gehe er noch mal für eineinhalb Stunden raus.
Wenn ich spazieren gehe, kann ich die Ängste vergessen.
Marc Cordsen
lebt mit Diagnose Multiple Sklerose
Auch von Gaarden bis Raisdorf und Molfsee sei er bereits gelaufen. Ab und zu begleite ihn jemand, meistens sei er allein unterwegs. Wichtig für den an MS erkrankten Mann aus Kiel: „Bei einer neuen Strecke muss ich den Boden erst abscannen auf Unebenheiten.“ Auch bei Schnee müsse er aufpassen.
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Das Laufen ist für Marc Cordsen mehr als Bewegung. „Es ist ein unheimlich schönes Gefühl und bringt mir einfach Spaß“, sagt der 40-Jährige. Außerdem helfe es ihm gegen seine Depressionen, die er mit der Multiplen Sklerose entwickelt habe. „Manchmal mache ich mich verrückt vor Sorgen, wie es weitergeht, denn ich stehe morgens auf und weiß nicht, was passiert.“ Er habe Angst, irgendwann nicht mehr viel machen zu können. Angst, dass es schlimmer wird, wenn er nicht so weitermacht wie bisher.
„Aber wenn ich spazieren gehe, kann ich die Ängste vergessen.“ Das Leben, es fühlt sich für Cordsen unterwegs leichter an, mit Musik in den Ohren. „Die Multiple Sklerose rückt in den Hintergrund“. Die Rückenschmerzen und das Kribbeln im Fuß würden sogar besser.
Cordsen will seine Geschichte nicht erzählen, um zu betonen, was er geschafft habe: „Ich möchte damit anderen Mut machen.“ Gleichzeitig müsse jeder Patient die Krankheit für sich selbst verstehen und einen Umgang damit finden. Der Kieler hat einen Weg gefunden: „Früher war das Essen mein bester Freund, jetzt ist für mich das Laufen mein bester Freund geworden.“
KN