Stand: 14.08.2025 20:24 Uhr

Mit „Durch den Monsun“ wurden Tokio Hotel 2005 gefeiert und verspottet. 20 Jahre später zeigt sich: Ihr Stil, ihr Pathos und ihr Fandom waren wegweisend für den Pop von heute.

Von Samira Straub, SWR Kultur

Am 15. August 2005 lief zum ersten Mal ein Song im Radio, der für eine ganze Teenagergeneration zum Soundtrack wurde: „Durch den Monsun“, das Debüt von Tokio Hotel. Im Musikvideo läuft der damals 15-jährige Bill Kaulitz durch Regen und Nebel, hinter ihm eine Band, die so gar nicht in die weichgespülte Poplandschaft der Nullerjahre passen wollte. Für viele Jugendliche wurde der Song zu einer Identifikationshymne, für andere war die Band vor allem eines: ein Ärgernis.

2005 war das Bild von Männlichkeit in der deutschen Popkultur noch klar umrissen: Entweder Boyband-sauber oder rockig-rau. Bill Kaulitz passte in keines dieser Raster. Sein toupiertes Haar, die schmale Silhouette, der tiefschwarze Kajal und hautenge Kleidung wirkten wie eine bewusste Provokation. Daneben verkörperte Zwillingsbruder Tom mit Baggy-Hosen, Basecap und einem Hip-Hop-inspirierten Stil eine ganz andere Form von Abweichung.

Tokio Hotel, aufgenommen bei einem Konzert in Magdeburg.

Look als Zumutung und Fortschritt

Zusammen stellten sie auf zwei vollkommen unterschiedlichen Wegen infrage, wie „männlich“ ein Popstar auszusehen hatte. In Talkshows und Kommentarspalten wurde vor allem Bill Kaulitz als „verweichlicht“ oder „zu weiblich“ bezeichnet. Eine Abwehrreaktion auf jede Form von Mehrdeutigkeit in einer Ära, in der Geschlechterbilder noch wesentlich starrer waren.  

Zwanzig Jahre später gehört genau dieser Look zur internationalen Popästhetik. Musiker wie Harry Styles oder Måneskin posieren in Spitzenblusen, Stars wie Conan Gray oder Kim Petras inszenieren Geschlecht als flexibles Spiel – ohne dass dies einen Shitstorm entfacht.

Tokio Hotel als Vorreiter

Vielmehr sind sie dafür gefeierte Ikonen einer Generation, die Geschlecht als etwas Fließendes begreift. Was 2005 noch als irritierend galt, ist im Mainstream angekommen. Tokio Hotel haben diese Ästhetik vorgelebt, bevor es das Vokabular dafür gab. 

Während der Look provozierte, wurde die Fanbase zum Blitzableiter gesellschaftlicher Ressentiments. Vor allem junge Mädchen, die sich hemmungslos in das Pathos von Tokio Hotel stürzten, bekamen den Spott ab und wurden als hysterisch oder peinlich gebrandmarkt.

Zwischen Hysterie und Hass

Dieses Muster ist alt: Schon bei den Beatles oder Take That richtete sich der Spott weniger gegen die Musik, als gegen die weibliche Begeisterung selbst. Kulturwissenschaftliche Analysen sprechen hier von einer „Misogynie des Fandoms“: Während männliche Leidenschaft für Fußball oder Rockmusik als authentisch gilt, wird weibliche Begeisterung schnell als „hysterisch“ abgetan.   

Ihre Community bot auch queeren und nonkonformen Jugendlichen einen frühen Safe Space, lange bevor Pride-Merch oder Social Media diese Möglichkeiten multiplizierten. In Wahrheit organisierten diese Teenager etwas, das heute selbstverständlich ist: Fandom als Safe Space. Hier war Platz für Eskapismus und für die Freiheit, sich selbst zu erfinden – lange bevor soziale Netzwerke diese Möglichkeiten multiplizierten. 

Die Medienmaschine und ihr Spott

Der Boulevard behandelte Tokio Hotel wie eine Mischung aus Boygroup und Kuriosität. Schlagzeilen über „Zaunbelagerungen“ oder „Hysterie“ reduzierten die Band auf Spektakel. Begriffe wie „Emo-Kinder“ sollten das Unbehagen benennen, das ihre ästhetische Ambivalenz auslöste.  

Gleichzeitig inszenierten Jugendmedien wie die Bravo das Quartett als Stars zum Anfassen. In einer Zeit vor Instagram und TikTok waren sie Social-Media-Stars ohne Social Media: Die Fantasie der Fans speiste sich aus Bildern, Interviews und Konzertmitschnitten. 

Musikalischer Eskapismus statt Macho-Gesten

Musikalisch standen Tokio Hotel ebenso quer zum Zeitgeist. Statt Machogehabe und ironischer Distanz, wie bei vielen damaligen Rock- und Hip-Hop-Acts, boten sie Pathos und Verletzlichkeit. Die Nullerjahre waren geprägt vom sogenannten „Post-Y2K-Optimismus“, einer Kultur des Fortschrittsglaubens und grenzenloser Möglichkeiten. „Durch den Monsun“ und die folgenden Singles brachten dagegen eine dunklere Romantik in den Mainstream.  

Heute klingt vieles davon wie ein Vorläufer des Emo- und Pop-Punk-Revivals, das Künstlerinnen wie Olivia Rodrigo oder Billie Eilish bei der Gen Z populär gemacht haben. Die Dark-Romance-Ästhetik, die Tokio Hotel einst Spott einbrachte, hat inzwischen eine ganze Streaming-Generation für sich entdeckt. Auch auf TikTok findet sich ihre Mischung aus emotionaler Offenheit und dramatischer Bildsprache heute zuhauf.

 

Die Mitglieder der Band Tokio Hotel heute.

Späte Rehabilitation

Zwei Jahrzehnte später hat sich der kulturelle Blick gewandelt. Tokio Hotel sind keine Zielscheibe mehr, sondern Teil eines queeren, vielfältigen Popverständnisses. Ihr Stil ist heute kein Affront mehr, sondern gelebte Selbstverständlichkeit. Die Band hat sich internationalisiert, ihre Musik ist stiloffen, und der einst so scharf kritisierte Bill wird als Fashion-Ikone gehandelt.

Die Kaulitz-Brüder erreichen mit Podcasts und Netflix-Formaten ein Publikum, das weit über die damalige Fanbasis hinausgeht. Selbst auf Rock-Festivals, wo früher über sie gelästert wurde, werden sie inzwischen unironisch gefeiert – auch von denen, die sich damals über sie lustig machten. Der Zeitgeist hat sich an Tokio Hotel herangerobbt.