Lorna ist impulsiv und großherzig, lässt sich nichts bieten und wird von allen umschwärmt. Auch Markus, der im Hochhaus gleich neben ihr wohnt, verliebt sich in sie. Er steht ihr bei, als Lorna am Ende der Schulzeit ihren Freund bei einem Autounfall verliert, während sie selbst Schnittwunden im Gesicht davonträgt. Schließlich kommen sie zusammen, irgendwann in den Sechzigern oder Siebzigern, und Markus zieht in die Wohnung in einem seltsam halb fertigen Haus, die Lorna mit der Schwäbin Katharina bewohnt.
Das junge Paar unternimmt Reisen, besucht Tübingen, wo Lorna studieren möchte, und Stuttgart, wo sich Markus an der Kunstakademie bewirbt. Doch das Zusammensein bekommt Risse, als Markus sich eingestehen muss, dass Lorna sich verändert hat: Sie wird ihm gegenüber aggressiv und spricht von übernatürlichen Kräften, die sie angeblich besitzt. Nachts läuft sie ruhelos durch die Wohnung und redet vor sich hin. Irgendwann verschwindet sie für zwei Tage und bringt einen Mann mit, den sie in ihrem Zimmer einquartiert und zu dessen Unterstützung sie Geld von Markus verlangt. „Manisch-depressiv“ nennt Katharina Lornas Zustand. Dafür legt Lorna Feuer auf Katharinas Türschwelle.
Er ringt um jede Spur der früheren Lorna
Der Blick auf einen geliebten Menschen, der psychisch erkrankt und dessen Wesensveränderung die Umwelt vor große Herausforderungen stellt, ist in der Literatur unserer Zeit nicht ungewöhnlich. Dazu gehören auch die Zustände in psychiatrischen Einrichtungen – in Markus Berges’ Roman „Irre Wolken“ (2024) etwa lernt der Erzähler das Mädchen, in das er sich verliebt, in der Psychiatrie kennen, hilft ihr bei der Flucht und rätselt angesichts ihrer andauernden Stimmungsschwankungen permanent, ob seine Gefühle erwidert werden oder ob er nichts als ein Werkzeug der manipulativen Patientin ist.
Paul Maar: „Lorna“. Novelle.S.Fischer
Auch in „Lorna“, der jüngst erschienenen Novelle des als „Sams“-Autor bekannt gewordenen Paul Maar, herrscht diese Perspektive vor. Dass Markus, der mit Lorna seine erste Liebe erlebt, die Freundin kaum noch wiedererkennt und dabei um jede Spur der früheren Lorna in der ihm nun unverständlichen Person ringt, teilt sich mit, ebenso seine Trauer und das wachsende Bewusstsein dafür, dass er sich selbst schützen muss. Ein bisschen Sams steckt auch in ihm, nicht nur im Beharren darauf, dass Worte etwas bedeuten und erklärt werden müssen, wenn sie unverständlich sind, sondern auch in einer stillen Renitenz und Beharrlichkeit. Dass er Lorna liebt, auch als sie längst verschwunden ist, weiß er. Katharina, mit der er schließlich zusammenkommt, weiß es auch.
Maar, Jahrgang 1937, schildert mit einigem Realismus die Zustände in der Psychiatrie der Siebziger. Das Buch sei angelehnt an Erfahrungen, die er mit seiner deutlich jüngeren, inzwischen verstorbenen Schwester gemacht habe – die Worte „in memoriam Barbara Maar“ stehen am Anfang dieser Novelle. Zugleich ist das Zeitlose des Textes unübersehbar, in der bisweilen erstaunlich kühlen, fast gläsernen Sprache und auch in seiner Handlung.
Der Sex der beiden stört die Freundin beim Fernsehen
Maar gibt deutliche Hinweise darauf, dass Lorna, die überall aneckt, und ihre Mitbewohnerin Katharina, die Wim Thoelke und dessen Sendung „Der große Preis“ mit großer Anteilnahme rezipiert, als Gegensätze entworfen sind, zwischen denen mit Markus der dritte Mieter jener Wohnung steht – dass der Sex der beiden Katharina beim Fernsehen stört, wie sie durch die Wand ruft, ist zweifellos ein früher Hinweis des Erzählers auf die Orientierung der jungen Schwäbin an den Gepflogenheiten ihrer Umgebung. Sie realisiert Lornas Zustand und bemüht sich um Abstand, was angesichts mehrerer Wohnungsbrände nur zu verständlich ist.
Markus dagegen steht in all seiner Hilflosigkeit an Lornas Seite, solange es eben geht und auch noch darüber hinaus. Der kluge Autor ermöglicht ihm und den Lesern mit einigen Episoden jenseits der Paarbeziehung, die Krankheit zu sehen, wo sie auftritt, und die Grauzone, die vielleicht auf sie zuführt, vielleicht aber auch nicht. Und entfaltet so in dem schmalen Text ein Panorama, das umso facettenreicher wird, je mehr die Hoffnung auf einen Ausweg schwindet.
Paul Maar: „Lorna“. Novelle. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2025. 110 S., geb., 22,– €.