Es ist wieder passiert: Der namenlose Ich-Erzähler hatte eine manische Phase, die vierte. Diesmal intensiver und länger denn je. Zwei Jahre lang hat er – tatsächlich wie im Wahn – sein Leben gründlich und in allen Belangen zerstört. Die Wohnung: eine runtergerockte Müllhalde. Freunde und Familie: nachhaltig vergrault. Der Körper: ein Wrack. Das Ansehen als Schriftsteller: ruiniert. Die Schulden: turmhoch.
Und auf die Manie folgt – typisch für eine bipolare Störung – die Depression. Mit der Erkenntnis kommen Scham, Selbstekel, Isolation, Selbstaufgabe. Der Ich-Erzähler ist ganz unten angekommen, so weit unten, dass er es noch nicht mal schafft, den Wunsch, seinem Dasein ein Ende zu setzen, in die Tat umzusetzen.
Das ist der Ausgangspunkt von Thomas Melles Roman „Haus zur Sonne“. Der Autor, der im März 50 Jahre alt geworden ist, hat seine eigene bipolare Störung bereits in der Vergangenheit autofiktional verarbeitet und seither auch in Interviews immer wieder offen darüber gesprochen. Eine frühe Version von „Haus zur Sonne“ wurde 2006 als Theaterstück veröffentlicht. Breite Aufmerksamkeit für das Thema erzielte Melle dann mit seinem Roman „Die Welt im Rücken“ (2016), der anschließend ebenfalls für die Bühne adaptiert wurde.
Doch die Hoffnung, mit Coming-out und Selbstreflexion „dieses Monstrum von Krankheit vielleicht auf irgendeine Weise domestiziert zu haben“, wie Melle nun auf den ersten Seiten von „Haus zur Sonne“ schreibt, hat sich nicht erfüllt. „Ich hatte mich bei der Niederschrift des Buches noch einmal mit aller Kraft gegen die Krankheit gestemmt – und verloren. Mein Talent kam gegen die Krankheit nicht an, sie war stärker gewesen, am Ende.“
Thomas Melle: „Haus zur Sonne“ (Kiepenheuer & Witsch), 320 Seiten, 24 Euro.
Was also bleibt einem derart zerstörten Ich? Da ist Ella, eine alte, unmöglich gewordene Liebe, die auf wundersame Weise immer noch da ist, ein letzter Halt. Und da ist die Sachbearbeiterin im Jobcenter, eine junge, strenge Gouvernante. Als der Erzähler diese aufsucht, um das würdelose Gesuch nach einer Soforthilfe hinter sich zu bringen, stößt er zum ersten Mal auf das „Haus zur Sonne“. „So nicht weiter?“, wirbt ein Flyer für die Einrichtung. „Wir machen es anders! Das Pilotprojekt zur Lebensverbesserung, Traumverwirklichung, Selbstabschaffung.“
Selbstabschaffung. Von Beginn an lässt Melle keinen Zweifel daran, worum es im „Haus zur Sonne“ geht: das Finale. Ein letztes Glück und dann – das Ende. Eigentlich also das, was der Erzähler sich sehnlichst wünscht. Bezahlt wird das alles vom Staat. „Was er nicht mehr an jahrzehntelanger Sozialhilfe beisteuern muss, investiert er in den letzten Traum“, gibt Herr von Radowitz, der Leiter der Einrichtung, seinem neuen Klienten mit auf den Weg.
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Man ahnt: Es wird absurd. Doch während – der Vergleich sei gestattet – Heinz Strunk seine Leser in „Zauberberg 2“ auf einen eher klamaukigen Selbsterfahrungstrip ins Sanatorium mitnimmt, wird es bei Melle düster kafkaesk. Im „Haus zur Sonne“ geht es ans Eingemachte. Die Klienten werden in Watte gepackt, bekommen nüchterne, aber schöne Zimmer, Essen und Schlaf nach Gusto, Fitness- und Wellness-Angebote, Medikamente und Drogen, alles unter psychologischer Begleitung.
Vor allem aber können sie ihren Träumen und Wünschen in sogenannten Simulationen nachgehen – alles ist möglich. Dazu wird ihnen ein Stecker am Hinterkopf implantiert, über den sie verkabelt werden. Bis zum Schluss weiß der Leser nicht, was dieses „Haus zur Sonne“ eigentlich sein soll. Psychiatrie? Sanatorium? Selbstoptimierungsinstitut? Sterbehilfeklinik oder gar Euthanasieanstalt?
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So begibt sich der Ich-Erzähler auf eine Reise zu den großen Fragen: Wieso ist mein Leben so verlaufen, wie es verlaufen ist? Wie wäre es verlaufen, wenn ich mich an bestimmten Punkten anders entschieden hätte, wenn ich geheiratet und Kinder bekommen hätte? Was sind eigentlich meine Wünsche und Träume? Wie wäre ich gerne? Was macht mich glücklich? Letztlich sind all dies nicht Fragen des – wenn auch freiwillig beschlossenen – Todes, sondern des Lebens. Gibt es doch noch Hoffnung?
Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer
Thomas Melle, geboren 1975 in Bonn, gilt als einer der herausragenden deutschen Schriftsteller der Gegenwart. Bereits vor Erscheinen seines Debütromans „Sickster“ (2011), der es gleich auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis schaffte, nahm er 2006 am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil.
Die beiden Folgewerke „3000 Euro“ (2014) und „Die Welt im Rücken“ (2016) standen auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Neben inzwischen fünf Romanen hat Melle auch mehrere Theaterstücke verfasst. Mit der Bühnenadaption von „Die Welt im Rücken“ wurde er 2018 zum Berliner Theatertreffen eingeladen, mit „Versetzung“ und „Ode“ 2018 und 2020 zu den Mühlheimer Theatertagen.
Melle hat seine bipolare Störung im Zuge der Veröffentlichung von „Die Welt im Rücken“ öffentlich gemacht und sein Leben damit seither auch immer wieder in Interviews thematisiert.
Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen sind etwa drei Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens von der Krankheit betroffen, was etwa 2,5 Millionen Menschen entspricht. Ihnen gibt Thomas Melle erneut eine Stimme. Es ist schon eine große literarische Leistung, wie der Autor die introspektive Auseinandersetzung mit seiner Krankheit und seinem Sein und Wesen mit den großen Lebensfragen und dem fast Science-Fiction-artig anmutenden und immer absurder werdenden Setting des „Hauses zur Sonne“ verbindet.
Aber es ist auch ein hartes, schonungsloses Buch, das seinen Leserinnen und Lesern einiges abverlangt. So nahe wie bei Melle kommt man als Nicht-Betroffener einer bipolaren Störung sonst wohl kaum. Dennoch kann man eine Menge aus dem Buch ziehen, denn die Frage nach dem Glück betrifft wohl jeden. Sie ist allerdings unbequem. Es wäre eine Überraschung, wenn Melle mit dem Roman nicht – wie bereits mit „Sickster“ (2011), „3000 Euro“ (2014) und „Die Welt im Rücken“ – für den Deutschen Buchpreis nominiert würde.