Als Elle van Rijn im Radio die ergreifende Geschichte der damals 17-jährigen Kinderpflegerin Betty Oudkerk hörte, beschloss sie, diese in Romanform aufzuschreiben. Daraus wurde in ihrer niederländischen Heimat ein erfolgreicher Bestseller auf 368 Seiten. Der bedeutungsschwere Titel: „Für Angst blieb keine Zeit”.

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Literarischer Sommer” machte die Autorin, Schauspielerin und Drehbuchautorin ihr Publikum in der voll besetzten Rheydter Stadtteilbibliothek am Dienstag, 12. August, nun mit der jungen Hauptfigur ihres Romans bekannt. Diese lebte einst wirklich – und hatte es sich zur Zeit des Nationalsozialismus zur Aufgabe gemacht, möglichst viele jüdische Mädchen und Jungen aus der Kindertagesstätte, in der sie eine Ausbildung begonnen hatte, vor Deportation, Konzentrationslager und Ermordung zu retten.

„Es war mir ein Bedürfnis, diese Geschichte aufzuschreiben, um sie möglichst vielen Menschen zu erzählen”, sagte van Rijn im Gespräch über ihren Roman. Und: „Meine Faszination wurde größer und größer, je mehr ich mich hineinarbeitete.” Die 58-Jährige entführte die Zuhörer während ihrer Lesung in das Amsterdam der frühen 1940er Jahre. Als auf der Straßenseite gegenüber im früheren Theater „De Schouwburg” ein Deportationszentrum eingerichtet wird, werden die Kinder zunächst in der Kindertagesstätte untergebracht. Die Leiterin lässt immer wieder Namen von den offiziellen Listen verschwinden. Betty und ihre Kolleginnen schmuggeln die Kinder an den deutschen Soldaten vorbei, bringen sie außer Landes in Sicherheit, verstecken sie sogar in einem Koffer. Als Jüdin musste das junge Mädchen auch am eigenen Leib schmerzlich erfahren, wie die Lage immer bedrohlicher wurde. Doch um die Kinder zu beschützen, war Betty Oudkerk bereit, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen.

Elle van Rijn erzählte von ihrer einzigen Begegnung mit der tatsächlichen Heldin aus ihrem Roman. Damals lebte Betty Oudkerk in einem holländischen Versorgungsheim für Senioren, war weit über 90 Jahre alt. Van Rijn hatte Glück: Nur einen Tag später setzte der Corona-Lockdown ein, der das wichtige Treffen verhindert hätte. Die ehemalige Kinderpflegerin gab ihr damals grünes Licht für das Buchprojekt, sagte ihr aufmunternd: „Schreib‘ das, was du willst.” Witzig und humorvoll sei sie bei dem rund dreistündigen Treffen gewesen, sagte van Rijn. Kurze Zeit später sei Oudkerk nach einem schlimmen Sturz gestorben.

Sie habe kein Sachbuch schreiben wollen, betonte van Rijn im Gespräch. Was sie sich in der Entstehungsphase immer wieder vor Augen führte: „Das Thema ist sehr prekär, es macht etwas mit dem Bewusstsein.” Das deutsche Publikum gehe anders damit um. In den vergangenen Jahren habe sie festgestellt, wie sich die Haltung der Deutschen verändert habe, sagt van Rijn. Früher habe niemand die eigenen Großeltern in einem negativen Licht sehen wollen. Heute werde eher eingeräumt, dass die Familiengeschichte auch Negatives zu Tage fördern kann.