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Der Fachkräftemangel trifft die deutsche Wirtschaft – und kostet Milliarden. Beim Kampf gegen den Engpass haben Unternehmen gepennt, kritisiert Recruiting-Experte Waraich: „Es ist schon fünf nach zwölf“.

München – „Deutschland hat in den letzten Jahren verpennt, sich in einigen Hinsichten weiterzuentwickeln und über den Tellerrand hinauszuschauen“, sagte Sultan Waraich, Geschäftsführer von Curato. Sein Unternehmen unterstützt Firmen, über die Jobplattform von Indeed geeignete Bewerberinnen und Bewerber anzusprechen. Doch die Suche fällt vielen Unternehmen schwer. Denn in Deutschland herrscht der Fachkräftemangel, doch Unternehmen hätten zu lange nur auf den deutschen Arbeitsmarkt geschaut, so die Kritik.

Deutschland hat im Kampf gegen Fachkräftemangel „verpennt“ – Milliardenkosten die Folge

Dabei werden fehlende Fachkräfte und Beschäftigte zunehmend zum Problem für die deutsche Wirtschaft. 570.000 Stellen konnten bereits 2023 nicht besetzt werden, im Juli 2025 wies die Bundesagentur für Arbeit 628.000 bei ihr gemeldete offene Stellen aus. Konkret bedeutet das letztendlich, dass die Unternehmen weniger produzieren oder leisten können. Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) sind dadurch 2024 Produktionskapazitäten im Wert von 49 Milliarden Euro verloren gegangen, 2027 werden es demnach 74 Milliarden Euro sein.

In einem Krankenhaus erklärt eine Ausbildern angehenden Pflegekräften aus Indien, wie sie eine Infusion anlegen.Gerade im Bereich der Pflege blicken Krankenhäuser und andere Einrichtungen bei der Suche nach Fachkräften ins Ausland. (Symbolfoto) © Waltraud Grubitzsch/dpa

Denn das Defizit an Arbeitskräften nimmt in den kommenden Jahren zu. Die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge gehen derzeit schrittweise in Rente, darunter sind zahlreiche Fachkräfte. Umgekehrt kommen nicht genügend Arbeitskräfte aus den jüngeren Generationen nach. Bis 2035 könnte die Arbeitskräftelücke laut Bundesagentur für Arbeit (BA) schon rund sieben Millionen betragen.

Fachkräftemangel nicht allein in Deutschland lösbar: „Wir müssen international schauen“

„Wir schaffen es gar nicht mit dem, was wir in Deutschland haben, also auch mit den Leuten, die arbeitslos sind, den Bedarf zu decken, um auch ein wirtschaftliches Wachstum hinlegen zu können“, sagte Waraich IPPEN.MEDIA mit Blick auf eine mögliche Lösung des Problems. Bisher seien die Unternehmen jedoch nur darauf aus, Bewerber in Deutschland zu erreichen. „Dieser Weg allein wird nicht mehr reichen“, so Waraich. „Wir müssen international schauen.“

Engpässe belasten Wirtschaft: In diesen 15 Berufen ist der Fachkräftemangel am größtenEin Koch steht an einer Arbeitspfläche in einer Küche und richtet seine Zutaten, darunter sind Tomaten.Fotostrecke ansehen

Dort gebe es die Fachkräfte, die in Deutschland fehlen, so Waraich. Seine Recruiting-Agentur betreut Firmen aus Industrie, Handwerk, IT, als Beispiel wählt er die Pflege. Laut Pflegevorausberechnung des Statistischen Bundesamts fehlen bis 2049 fast bis zu 700.000 Pflegekräfte. In der Türkei gebe es „Pflegefachkräfte im Überschuss“, sagte der Curato-Geschäftsführer. „Warum holen wir diese Pflegefachkräfte, die wirklich motiviert sind und die arbeiten wollen, nicht nach Deutschland?“

Auch die Bundesagentur für Arbeit sieht Migration als einen zentralen Hebel, um der Fachkräftelücke entgegenzutreten. Falls wie 2024 rund 1,3 Millionen Menschen Deutschland den Rücken kehrten, brauche es 1,7 Millionen Zuwanderer, erklärte BA-Vorständin Vanessa Ahuja der Welt.

Deutsche Wirtschaft hinkt beim Werben um ausländische Fachkräfte hinterher – kritisiert Recruiter Waraich

Beim Anwerben der ausländischen Arbeitskräfte seien deutsche Unternehmen im Rückstand, findet Waraich. Er merke, dass immer mehr das Interesse entstehe. „Aber jetzt ist es eigentlich schon kurz vor zwölf oder eigentlich schon nach zwölf“, findet er. „Im Endeffekt hätte man schon viel früher auf die Themen eingehen sollen.“ In Deutschland „hängen wir jetzt gerade schon sehr weit hinterher.“ Eine Umfrage der Bertelsmann-Stiftung vom Ende des vergangenen Jahres gibt ihm recht. Demnach suche nicht einmal jedes fünfte Unternehmen, konkret 18 Prozent, im Ausland nach neuen Mitarbeitern. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) spricht sogar von nur sechs Prozent.

Die Unternehmen müssten sich die Frage stellen, „welche Leute in Zukunft das Unternehmen verlassen“, so Waraich. „Da geht es nicht nur darum, welche Mitarbeiter im nächsten Jahr gehen, sondern in den nächsten fünf bis zehn Jahren.“ Wenn die Entscheidung falle, dass der Bedarf nicht allein in Deutschland gedeckt werden könne, „geht es darum, in Mitarbeiter zu investieren und einen Mitarbeiter einzustellen, der sich genau um dieses Thema kümmert“.

Deutsche Firmen müssen Fachkräfte aus dem Ausland unterstützen – auch abseits der Arbeit

Beim Werben um ausländische Fachkräfte gehöre auch ein „Employer Branding dazu“, also „sich als Arbeitgeber, genau wie wir es in Deutschland machen, sich ins Schaufenster zu stellen und als attraktiven Arbeitgeber für Mitarbeiter zu zeigen“, erklärte Waraich. „Genauso müssen sie es auch für Auslandsfachkräfte angehen.“

Neben dem üblichen Prozess müssten Unternehmen jedoch mehr tun. Die Unternehmen sollten die Kandidaten beim Antrag für ein Visum unterstützen. „Es gibt Unternehmen, die arbeiten mit Mentoren, der dabei helfen kann, die Formulare auszufüllen und eine Wohnung zu suchen“, sagte Waraich. „Sprachkurse gehören dazu, dass der Kandidat auch das Gefühl hat, er wird wirklich integriert und nimmt die Werte in Deutschland mit.“ Viele Unternehmen konzentrierten sich bisher zu sehr auf die Arbeit. „Aber auch das Umfeld spielt eine extrem große Rolle. Sprich die Integration in das Land darf definitiv nicht fehlen“, so der Recruiting-Experte.

Unternehmen zögern bei der Mitarbeiter-Suche im Ausland – zum Teil wegen bürokratischen Hürden

Mehr als die Hälfte (52 Prozent) der Unternehmen nennt in einer Umfrage des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) bürokratische Hürden als Grund, wieso sie nicht im Ausland nach Fachkräften suchen. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz hat die Bundesregierung jedoch den Prozess vereinfacht.

Das IAB erklärt, dass viele Unternehmen davon jedoch nichts wüssten. Waraich beobachtete jedoch bereits Verbesserungen, „gerade in den Branchen wie IT oder in der Pflege“. Dazu mahnte er im Gespräch: „Darauf zu warten, dass sich politisch noch viel mehr ändert, das können wir nicht beeinflussen“.