Von der Hartz-IV-Empfängerin zum Regierungsmitglied: Die gebürtige Iranerin Maryam Blumenthal hat einen rasanten Aufstieg hingelegt. Als Senatorin in Hamburg wolle sie nun ihr Ressort verteidigen, auch wenn es unbequem werde. Ihre Haltung als Grünen-Politikerin muss sie in Einklang mit ihrem neuen Amt bringen.
Fasziniert blickt Maryam Blumenthal auf die großformatigen Nahaufnahmen der Frauen in der Ausstellung „Breaking the Surface“, als sie diese jüngst im Maritimen Museum in Hamburg eröffnet. Mit den Stimmen der Wissenschaftlerinnen taucht die Schau in die Meeresforschung ein, beleuchtet unbekannte Räume der Ozeane – und durchdringt ein Terrain, das über Generationen von Männern geprägt wurde. Es ist ein Termin nach dem Geschmack der Senatorin, die Verschmelzung ihres Ressorts Wissenschaft, Forschung und Gleichstellung. Und so könnte der Titel der Ausstellung – ins Deutsche übersetzt „die Oberfläche durchbrechen“ – zu einem Leitsatz für Blumenthals erste Amtszeit im Senat werden.
Seit die 40-Jährige im Mai den Sprung von der Abgeordneten- auf die Regierungsbank wagte, wurde viel über sie berichtet, die erste Senatorin der Grünen mit Migrationshintergrund, Erziehungswissenschaftlerin, Mutter dreier Söhne. In ihrem neuen Gebiet geht es jedoch darum, wie Blumenthal die hochkomplexe Wissenschaft in den nächsten fünf Jahren gestaltet, im Einklang mit Freiheit, Lehre und Pragmatismus.
Bei der Schau auf Deck 7 im Maritimen Museum erweckt Blumenthals Aufmerksamkeit das Porträt von Stefanie Arndt, Meereisphysikerin am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. Arndt beobachtet in ihrer Arbeit eine Veränderung in der Ausdehnung des Meereises. Blumenthal stutzt, denn die Messungen der Forscher zeigen, dass sich die Dicke des Schnees und des Eises nicht verändert. Das zwingt Arndt und ihr Team zum Umdenken, wie sie es im Wandtext beschreibt: Warum wird die Eisfläche kleiner, aber nicht dünner?
Es sind Erlebnisse wie diese, die Blumenthal in den ersten 100 Tagen auf ihrer Tour durch die Hochschulen, Institute und Einrichtungen der Stadt ins Staunen versetzen. „Eigentlich sollte jeder Mensch die Gelegenheit haben, Wissenschaft hautnah zu erleben, um zu sehen, wie viel Zukunft, Hoffnung und Zuversicht in ihr steckt“, sagt die Senatorin, als WELT AM SONNTAG sie begleitet. Selbstkritisch fügt sie hinzu: „Das hätte ich früher nicht so unterschrieben. Ich frage mich: Wo waren all diese Menschen und Themen in meinem bisherigen Leben? Warum hatte ich als Privatperson so wenig Berührungspunkte mit ihnen? Vielleicht, weil man wissenschaftlichen Fortschritt oft als selbstverständlich hinnimmt.“
Politischer Kompass durch Leistungssport
Blumenthals Werdegang ist ein Beispiel für Aufstieg durch Bildung, ihr Weg zur Berufspolitikerin verlief rasant. 1985 in Teheran geboren, war sie noch ein Kind, als sie mit ihrer Familie aus dem Iran nach Deutschland floh. Ihre erste Station hierzulande war ein Asylheim, im Alter von 13 Jahren kam sie nach Hamburg, lebte im Problemstadtteil Steilshoop, bezog Hartz IV.
Ihren „politischen Kompass“ erkämpfte sie sich beim Leistungssport im Basketball, schloss in der Folge das Studium der Erziehungswissenschaft ab und arbeitete als Lehrerin, ehe sie die Politik entdeckte. 2020 zog Blumenthal – heute mit ihrem Mann und den drei Kindern in den wohlsituierten Walddörfern im Nordosten Hamburgs zu Hause – für die Grünen in die Bürgerschaft ein und wirkte parallel bis Juli dieses Jahres als Landesvorsitzende ihrer Partei.
Bei ihren ersten Schritten als Senatorin – am liebsten in Sneakern – tritt Blumenthal locker auf, während sie Hände schüttelt, Grußworte hält und Preise überreicht. Noch ist ihr der Druck nicht anzumerken, der aufgrund der Errungenschaften ihrer medienwirksam agierenden Vorgängerin und Parteifreundin Katharina Fegebank auf Blumenthal zurollt. Fegebank, mittlerweile Umweltsenatorin, hat wesentlichen Anteil daran, dass die Universität Hamburg den lukrativen Exzellenztitel trägt, zudem besitzt die Hansestadt fünf Exzellenzcluster. „Das ist ein enormer Erfolg“, sagt Blumenthal und weiß, was von ihr erwartet wird.
Die Exzellenzstrategie von Bund und Ländern spült Gelder in Millionenhöhe in die klammen Kassen der Hochschulen. 2026 entscheidet sich, ob die Universität Hamburg weitere sieben Jahre exzellent bleibt. „Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir das hohe Niveau halten“, betont die Senatorin. Das Thema Finanzierung möge dabei wenig sexy klingen, doch gehöre es zu ihren Aufgaben. Also führt sie Gespräche, zieht Fäden und klopft an Türen – „im besten Sinne als Lobbyistin für die Wissenschaftslandschaft in Hamburg“. Sie wolle sicherstellen, dass die Wissenschaft „ihre exzellente Arbeit trotz angespannter Haushaltslage fortführen kann“.
Blumenthals Anforderungsprofil umfasst weitaus mehr, wie die Opposition anmerkt. „Die Proteste, wie sie gerade aus der Politikwissenschaft wegen drohender Kürzungen und Streichung einer Professur aufkamen, müssen ernst genommen werden“, mahnt die Wissenschaftsexpertin der Linken, Sabine Ritter. Hervorragend ausgestattete Studiengänge gehörten ebenfalls zu einem attraktiven Hochschulstandort und sollten ebenso berücksichtigt werden wie die Forschung. Ein weiterer Fokus muss laut Ritter darauf liegen, dass das Studium in Hamburg unabhängig von sozialer oder geografischer Herkunft finanziell machbar sei. Die Linke Ritter wünscht sich, „dass nach der Legislaturperiode die Quote von Nicht-Akademikerkindern, die in Hamburg einen Abschluss erlangt haben, signifikant gesteigert wurde“.
Oppositionsführer Dennis Thering (CDU) erwartet von der Senatorin Verlässlichkeit: „Hamburgs Hochschulen und Forschungseinrichtungen stehen unter einem massiven Finanzdruck, der nicht länger ignoriert werden darf.“ Es genüge nicht, neue Aufgaben zu verteilen – wie Anforderungen in Nachhaltigkeit und Diversität –, ohne die nötigen Mittel bereitzustellen. „Frau Blumenthal muss sich durchsetzungsstark für eine solide Grundfinanzierung unserer Hochschulen einsetzen“, fordert Thering. Er befürchtet allerdings eine Fortschreibung der alten Muster: „ambitionierte Ankündigungen ohne ausreichende Mittel“. Gebraucht werde eine Wissenschaftssenatorin, „die gestaltet, überzeugt und liefert“.
Lösungsansätze der Forschung passen zu den Grünen
Auch weite Teile der Wissenschaftslandschaft hoffen, dass Blumenthal den Pragmatismus ihrer Vorgängerin übernimmt, sozusagen die „Oberfläche durchbricht“ und mit lösungsorientierter Direktheit statt parteipolitischer Ideologie entscheidet. Ihr Anspruch sei ein „unvoreingenommener Austausch“, sagt die Senatorin. Sie sei offen für die Problemanalysen und Lösungsansätze der Forschung, das passe gut zu den Grünen: „Wir sind die Zukunftspartei. Wir waren der Zeit immer schon ein wenig voraus. Wir stellen uns den großen Herausforderungen.“
Das sei auch ihr Erleben in der Wissenschaft. Dort werde Drängendes erkannt, aufgegriffen und konsequent weiterentwickelt, ob Klima oder Nachhaltigkeit. „Jedes Mal, wenn ich mich mit Forschenden austausche, frage ich mich: Und wir diskutieren wirklich noch darüber, ob es den Klimawandel überhaupt gibt?“ Die Wissenschaft sei längst weiter und beschäftige sich mit den unvermeidlichen Fragen unserer Zeit.
Die Schau über Frauen in der Meeresforschung, die noch bis Jahresende im Maritimen Museum zu sehen ist, sowie viele weitere Begegnungen in den vergangenen Wochen belegen für Blumenthal, wie mitreißend Wissenschaft ist. Aber sie ahnt, dass sie wohl auch unbequeme Tage erleben wird, Tage, an denen sie die Wissenschafts- und Meinungsfreiheit im Angesicht öffentlicher Hysterie schützen muss. Vorgängerin Fegebank erlebte solche Augenblicke, als der Ökonom und AfD-Mitgründer Bernd Lucke 2019 von Studenten daran gehindert wurde, seine Vorlesung an der Universität Hamburg zu halten. Für Aufruhr sorgten überdies die Aussagen des Physikers Roland Wiesendanger, der 2021 im Zusammenhang mit Corona den Ursprung des Virus auf einen Laborunfall im chinesischen Wuhan zurückführte.
„Insbesondere in kritischen Momenten liegt es in meiner Verantwortung, die Wissenschaftsfreiheit zu verteidigen, auch wenn sie unbequem sein mag“, verspricht Blumenthal. Die Grundlage dafür sei klar: „Das Grundgesetz gilt für uns alle, auch für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Lehrende an Hochschulen.“ Hinzu kämen die Hochschulgesetze und für sie als Senatorin der geltende Koalitionsvertrag. Daran fühlt sie sich gebunden. Solange sich alle in diesem Rahmen bewegten, „übe ich keinen Druck aus, was gesagt werden darf oder nicht“.
Zwar werde sie ihre Werte „nicht einfach auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler übertragen“, doch als Senatorin weiter ihre Meinung äußern. Wissenschaftsfreiheit sei ein Fundament unserer offenen Gesellschaft. „Sie endet dort“, erklärt Blumenthal, „wo sie dazu missbraucht wird, andere Menschen zu diffamieren, zu entwürdigen oder gezielt auszugrenzen.“ So kündigt die Senatorin selbstbewusst an: „Ich bin Politikerin und werde es bleiben, mit einer klaren grünen Haltung.“ Ihre Aufgabe sei es nun, diese Haltung in Einklang mit ihrem neuen Amt zu bringen.