Kiel. Wie findet man nach einem traumatischen Erlebnis wieder zurück ins Leben? Kinder und Jugendliche aus Kiels türkischer Partnerstadt Hatay haben die Lösung gefunden. Durchs Surfen. Dank eines Ingenieurs aus Istanbul lernten sie die heilende Kraft der Wellen kennen. Derzeit sind sie in Kiel und lernen auch hier das Leben neu zu lieben. Mit Surfboard und Wing erobern sie eine Woche lang die norddeutsche Ostsee.
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Es war Anfang Februar 2023, als sich die Welt für Kinder wie Duru (13) und Semir (14) komplett änderte. Zwei verheerende Erbeben in der Region Hatay im Südosten der Türkei mit der Stärke 7,7 und 7,6 zerstörten damals ihr Leben und das Leben von Tausenden. Viele verloren Familie und Freunde. Tausende Menschen starben. Fast 65 Prozent der Gebäude wurden zerstört. Wohnhäuser. Schulen, Krankenhäuser und Straßen.
Die heilende Kraft der Wellen: Ein Neuanfang für Hatays Kinder
Dass Duru und Semir trotzdem voller Hoffnung sind, liegt an Deniz Toprak. Der Ingenieur aus Istanbul kam eigentlich, um nach dem Erdbeben beim Aufbau zu helfen. Doch schnell merkte er, dass die Kinder verstummt waren. Die Erwachsenen waren mit dem Wiederaufbau beschäftigt. Die Kinder waren mit ihrem Schmerz allein. So gründete er in Hatay ein Surf-Center. Denn er wusste von der heilenden Kraft der Wellen.
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Sonst gehen die Kinder in Hatay zum Wellenreiten ins Mittelmeer. Jetzt lernen sie erstmals in Kiel, wie man auf einem Surfbrett steht.
Quelle: Viktoria Kovaleva
„Das Camp ist sensationell“, sagt Ebru Eksi (52). Sie ist Surflehrerin dort und begleitet jetzt die Kids nach Kiel. „Die Dynamik des Meeres sorgt für Dynamik im Leben der Kinder.“ So wie sich die Wellen ändern, ändert das Meer auch das Leben. „Hier sehen Sie gerade die glücklichsten Kinder von Hatay“, ist sie sich sicher. Anders als viele andere hätten sie wieder Hoffnung in die Zukunft.
Am Surfclub Kiel in Strande liegen schon Surfbretter und Wings bereit. Die neun Kinder aus Hatay und ihre vier Betreuer warten darauf, endlich die Ostsee erobern zu können. Normalerweise treffen sich alle zum Wellenreiten am Mittelmeer. Direkt vor ihrer Haustür in der Region Hatay. Doch statt ins 27 Grad warme Meer geht es nun in die 19 Grad „kalte“ Kieler Förde.
Seine Zukunft fest im Blick: Semir (14) erzählt, dass er später ein Profisurfer werden möchte.
Quelle: Viktoria Kovaleva
Der 14-jährige Semir kann es kaum erwarten, endlich in die Ostsee zu kommen. „Ich möchte später Surflehrer werden“, sagt er auf Türkisch. Der Dolmetscher Zekeriya Cil (35) von der türkischen Gemeinde in Kiel übersetzt. Semir kam vor eineinhalb Jahren zum Surfcamp in Hatay. „Auf dem Meer“, so sagt er begeistert, „verlasse ich das monotone Leben in der Welt.“
Von der Angst zur Leidenschaft: Semihs und Durus Surf-Erfolg
Sechsmal die Woche trainiert er im Sommer. Einige Meisterschaften hat er schon gewonnen. Anfangs, so erzählt er, habe er Angst vorm Wasser gehabt. Aber inzwischen liebe er das Meer. Genau so, wie Duru. Als die heute 13-Jährige zum Surfcenter in Hatay kam, konnte sie noch nicht einmal schwimmen.
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Auf die Plätze, fertig, los: Die Kinder aus dem türkischen Erdbebengebiet Hatay testen das Wingfoilen auf der Ostsee.
Quelle: Viktoria Kovaleva
Inzwischen hat auch sie mehrere Pokale bei den türkischen Meisterschaften gewonnen. „Auf dem Wasser fühle ich mich frei“, sagt sie. Später möchte sie einmal Ärztin werden. „Aber Wellenreiten wird immer mein Hobby sein.“
Während die Kinder aus Hatay in Strande in die Kunst des Surfens eingewiesen werden, kommen wir ins Gespräch mit einer der türkischen Betreuerinnen. Derya Türkoglu (48) war einst Gymnasiallehrerin in Hatay. Doch das Beben hat die Schule zerstört. Als sie von dem Surfcamp hört, heuert sie dort an. „Vorm Erdbeben hatte ich keine Ahnung vom Surfen“, sagt sie. Inzwischen unterrichtet sie neue Teilnehmer.
Surfen als Therapie: Hoffnung für traumatisierte Kinder und Jugendliche aus Hatay
Dem Camp wird sie ewig dankbar sein. Nicht nur sie schöpft neue Hoffnung, sondern auch ihr Sohn Nuri. Der heute 19-Jährige wurde durchs Surfen wieder zurück ins Leben und in die Normalität geholt. Nach dem Erdbeben saß er oft stundenlang mit Kopfhörern in seinem Zimmer und zeichnete Skelette in Schwarz-Weiß. Jetzt möchte er als Surf-Pro die Welt erobern.
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Derya Türkoglu kämpft mehrmals im Gespräch mit den Tränen. Auch zweieinhalb Jahre nach den Erdbeben sind die traumatischen Ereignisse noch so präsent wie am Tag des Geschehens. „Vor dem Beben habe ich täglich Zeitung gelesen, jetzt lese ich gar nichts mehr“, sagt sie. Sie könne nicht noch mehr Katastrophen in der Welt ertragen. Doch zwei Dinge haben sie die Ereignisse gelehrt: Lebe jeden Tag mit deinen Lieblingsmenschen. Und: Tue etwas für die Menschlichkeit.
Beim Surfen tanze ich mit dem Leben
Derya Türkoglu (48), Mutter und Surflehrerin aus Hatay
Sie lebe weiter für „all die Menschen, die wir verloren haben“, sagt sie. „Beim Surfen tanze ich mit dem Leben“, sagt sie. „Dann schaffe ich es, zu überleben.“
Gar nicht so leicht: Cem (11) ist zwar prima im Wellenreiten, doch auf einem Surfboard stand er noch nie.
Quelle: Viktoria Kovaleva
Auch Dolmetscher Zekeriya Cil muss bei diesen Worten schlucken. Fünfmal war er in Hatay. Zweimal vor dem Beben, dreimal danach. „Hunderttausende leben nach wie vor in Zelten“, erzählt er. „Da kannst du nicht fragen, wie geht es dir?“ Eher schon: Was kann ich für dich tun? Eine Frau bat um 0,5 Liter Wasser. Andere um Schuhe. „Ich schäme mich dafür, dass es mir hier in Kiel so gut geht.“
Surfen in Kiel: Ein Abenteuer für die Kids aus Hatay
Die Präsidentin des Surfclubs Kiel, Patrizia Schymura (40), hat etliche ihrer 490 Mitglieder motiviert, hier heute zu helfen. Während unter anderem Helmut, Leon und Peter vom Verein die Kids aus Hatay einweisen, ist sie beeindruckt von der Leidenschaft der Jugendlichen. „Die haben richtig Lust, aufs Wasser zu gehen.“ Auch sie weiß, wie heilend das Meer und die Wellen sein können.
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Das sehen wir auch gleich, als die ersten Kids das ungewohnte Equipment ausprobieren. Waren sie bisher nur mit einem einzelnen Brett zum Wellenreiten unterwegs, sind sie nun plötzlich mit Segeln und viel größeren Boards konfrontiert. Aber das ist völlig egal. Die heimischen Probleme und die Trostlosigkeit dort sind gerade meilenweit weg. Was jetzt zählt, ist der Moment. Das Meer und der Wind.
KN