Ayla S. (Name geändert) sitzt im Zeugenstuhl, weint, schluchzt, und ist bemüht, ein positives Bild ihres Vaters zu zeichnen. Nein, er sei nicht kontrollsüchtig gewesen, versichert sie, habe auch mal Suppe gekocht, und in der Familie seien alle gleichgestellt gewesen. Wie es zu den verstörenden Szenen kommen konnte, die sie nun schildert, dafür findet die erwachsene Tochter keine Erklärung: Ihr Vater hält die Mutter mit einem Arm am Hals fest, mit der anderen Hand schneidet und sticht er auf Gesicht, Hals und Oberkörper der Ehefrau ein. Shah S. heißt der gebürtige Afghane, der am Landgericht München wegen versuchten Mordes angeklagt ist.
Die Liebe von Kindern zu ihren Eltern ist oft eine bedingungslose und in diesem Fall wohl auch eine alles Verzeihende. Die Töchter des 58 Jahre alten Shah S. kommen ihren Vater im Gefängnis besuchen, und das, obwohl er ihre Mutter lebensgefährlich verletzt hat – und ihr Leben im Familienbund wohl nicht das angenehmste gewesen sein dürfte. Ayla S. sagt Sätze wie: „In Afghanistan ist es ganz normal, dass Kinder geschlagen werden.“ Sie seien eine „ganz normale und ruhige Familie“ gewesen.
Was „Normalität“ im Leben der Geschädigten Ellaha S. (Name geändert) bedeutete, hat Staatsanwältin Simona Müller in ihrer Anklageschrift aufgelistet: Mit 14 Jahren wurde sie als Mädchen mit ihrem Cousin in Kabul verlobt und mit 16 zur Heirat gezwungen. Der Angeklagte Shah S. sei streng gläubiger Muslim und die Ehe „von einem patriarchalem Rollenbild“ geprägt gewesen. Nur er alleine habe die Entscheidungsgewalt über die Familie gehabt, die Frau sei ihm unterstellt. Er soll Ellaha S. geschlagen, bedroht und beleidigt haben. Die drei Kinder züchtigte er „mit Schlägen und Tritten“.
Nach der Machtergreifung der Taliban, so berichtet die Tochter im Zeugenstand, hätten sie nicht mehr zur Schule gehen und die Eltern auch nicht mehr arbeiten können. So entschied sich der Vater im August 2022, nach Deutschland auszureisen.
Fragt man die Tochter, so glaubt sie, dass der „Stress“ in der Familie damit begann, dass die Eltern in Deutschland nicht arbeiten konnten und sie in beengten Verhältnissen in einem Übergangswohnheim in Nymphenburg lebten. Staatsanwältin Müller hingegen geht davon aus, dass Shah S. mit dem zunehmenden Selbstbewusstsein seiner Ehefrau nicht zurechtkam. Er googelte Fragen wie: „Welche Rechtsnorm gilt, wenn eine Frau ihrem Mann nicht gehorcht?“ Oder, vermutlich weil Ellaha S. mit den Kindern ins Freibad ging: „Kann eine Frau mit Männern zusammen schwimmen?“
Am Morgen des 9. September 2024 rastete S. aus: Er soll seine Frau beleidigt und, weil diese sich verbal wehrte, mit dem Messer attackiert haben. Auf einem Bildschirm im Gerichtssaal flimmern die Bilder der verletzen Frau: Eine riesige Schnittwunde klafft vom linken Auge quer über die Wange bis hin zur Nase. Körper und Gesicht sind mit Schnitt- und Stichwunden übersät. Shah S. schaut nicht hin.
Die Tochter hat seit dem Tag starke Gedächtnisprobleme. Sie habe den Schrei ihrer Mutter gehört, sagt sie. Dann, so die Anklage, sollen die beiden Töchter ins Zimmer gestürmt sein. Eine von ihnen schlug mit den Fäusten auf den Kopf des Vaters ein, die andere nahm ihm das Messer weg. Sie zogen die Mutter in ein anderes Zimmer, eine von ihnen stieß den Vater, als der aufstehen wollte, mit beiden Händen zurück auf den Boden. Später behauptete Shah S., die Ehefrau habe ihn angegriffen.
Zum Prozessauftakt hatte Verteidiger Alexander Eckstein erklärt, dass sich sein Mandant nicht zur Tat äußern werde. Und auch am zweiten Tag, als Shah S. bittet, mit seiner Tochter sprechen zu dürfen, kommt kein Wort des Bedauerns über seine Lippen. Ellaha S. ist mittlerweile geschieden. Sie befindet sich in psychologischer Behandlung und nimmt Psychopharmaka, ebenso die jüngere Tochter. Die große, Ayla S., glaubt, alleine mit allem fertig zu werden. Auch wenn ihre Lebensträume zerplatzt seien: nämlich Medizin in Deutschland zu studieren, so wie es der Wunsch ihrer Eltern gewesen sei, um anschließend für ihre Eltern „ein gutes Leben vorzubereiten“.